Im Auge des Winters
- Heyne
- Erschienen: Januar 2006
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Zur falschen Zeit am gruselig richtigen Ort
Nach einem missglückten Selbstmordversuch versucht Dale Stewart, Literaturdozent und Schriftsteller in mittleren Jahren, einen Neuanfang. Die Affäre mit einer jungen Studentin hat seine Ehe zerstört und ihn in eine tiefe Depression getrieben. Wurzellos geworden beschließt er den Rückzug in die Einsamkeit, wo er mit sich selbst ins Reine kommen und ein neues Buch schreiben möchte. Stewart wählt als Thema die eigene Vergangenheit. In Elm Haven, einer Kleinstadt im ländlichen Illinois der Vereinigten Staaten, ist er aufgewachsen und hat eine glückliche Kindheit verlebt, derer er sich gern erinnert.
Allerdings gibt es da einen schwarzen Fleck in seinem Gedächtnis. Die Kindheit in Elm Haven war nicht frei von Tragödien. Das alte Farmhaus, in das Stewart nun einzieht, gehörte dem Vater seines besten Freundes Duane McBride. Dieser ist vor vier Jahrzehnten bei einem nie geklärten Unfall grausam ums Leben gekommen. Damals hatte sich das Böse in der alten Central School eingenistet und viele Einwohner Elm Havens in seinen Bann gezogen. Zahlreiche Menschen mussten sterben, und zu ihnen gehörte auch Duane, was Dale Stewart längst verdrängt hat. [Diese Vorgeschichte erzählt Simmons in ";Sommer der Nacht”, 2006 neu aufgelegt vom Heyne-Verlag als TB Nr. 56505.]
Doch in seinem Unterbewusstsein ist die Vergangenheit sehr lebendig. Ein unwiderstehlicher Drang lenkte Stewart zurück nach Elm Haven. Dort trifft er alte Bekannte und lernt neue Freunde und Feinde kennen. Vor allem wird ihm klar, dass es im Farmhaus umgeht. Seltsame schwarze Hunde streifen auf dem Gelände herum und belauern ihn. Albträume plagen ihn, die um den seit Jahrzehnten versiegelten ersten Stock des Hauses kreisen. Auf seinem Laptop erscheinen mysteriöse Botschaften, die ihn warnen und zur Wachsamkeit aufrufen, ohne dabei konkret zu werden. Stewart wird selbst aktiv und stellt Nachforschungen an. Will er diesen trauen, braut sich in seinem momentanen Heim etwas Übles zusammen. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass er selbst allmählich dem Wahnsinn verfällt und selbst verantwortlich für den Spuk ist. Realität und Vision beginnen sich zu mischen, bis Stewart jeglichen geistigen Halt verliert. Erst in letzter Minute erkennt er, was tatsächlich vorgeht im alten Farmhaus, doch da sind ihm nicht nur die Geister von Elm House dicht auf den Fersen…
Wenn dich das eigene Hirn im Stich lässt…
";Im Auge des Winters"; ist eine Mischung aus klassischer Geistergeschichte und Psychothriller. Zu ersterer gehört üblicherweise eine ausführliche, langsame Einleitung, die den Schauplatz und die handelnden Personen vorstellt. Allmählich mischen sich leichte Irritationen in die Darstellung. Gern wird dies durch Stimmen aus dem Nichts, leer schaukelnde Stühle oder Lichter verdeutlicht, die stets verlöschen, sobald der irritierte Protagonist auf der Bildfläche erscheint. Diese durchaus als Klischees zu bezeichnenden Elemente setzt auch Dan Simmons ein. Er beweist allerdings, dass sich mit den alten Rezepten weiterhin Spannung und Grusel erzeugen lässt, wenn man sie anzurühren weiß.
Weiterhin gehört zur guten Geistergeschichte viel Atmosphäre. Simmons isoliert seine Hauptfigur Dale Stewart auf einer einsam gelegenen Farm, die schon Schauplatz vieler unschöner Ereignisse gewesen ist. Der Winter naht, es schneit heftig, die Zufahrtswege werden unpassierbar, das Handy streikt. Die erste Etage des Farmhauses ist seit Jahrzehnten mit Plastikfolien versiegelt, hinter denen Merkwürdiges vorgeht. Elm Haven selbst ist ein verlassen und öde wirkender, unwirtlicher Ort, der die Magie längst verloren hat, die den jungen Dale Stewart einst in ihren Bann zog.
Geschickt baut Simmons im gewählten Rahmen Spannung auf, schürt sie, führt seine Leser auf Irrwege. Das größte Rätsel bleibt natürlich, ob der Spuk ";echt"; ist. Man darf sich da nicht sicher sein, denn Dale Stewart, die Hauptfigur, ist ein psychisch stark angegriffener Mann (s. u.). Schuld erfüllt sein Denken und Handeln, so dass es ihm ohnehin schwerfällt zwischen Wahrheit und Wahn zu unterscheiden. Diese Unsicherheit teilt sich dem Leser dank Simmons mit.
";Im Auge des Winters"; ist übrigens keine typische Fortsetzung des Simmonschen Bestsellers von 1991, ";Sommer der Nacht";, der Dale Stewarts erste Auseinandersetzung mit dem Übernatürlichen im Jahre 1960 schilderte. Die Bezüge zwischen den beiden Romanen existieren, sie sind sogar sehr eng. Dennoch ist ";Im Auge des Winters"; ein eigenständiges Werk, denn Simmons interpretiert viele Ereignisse aus dem ";Somer der Nacht"; um. Nunmehr liest sich dieser ältere Roman in Kenntnis der neuen Geschichte anders. Ein solches (darf man das böse Wort benutzen? – ";intellektuelles";) Spiel mit der Vorgeschichte wäre nicht nötig gewesen, es ist ein Geschenk, das der Verfasser seinem Publikum macht.
Wenn es überhaupt etwas gibt, das sich bemängeln ließe, so ist dies Simmons’ Einfall, Dale Stewart nicht nur von Geistern, sondern auch von ebenso brutalen wie dummen Neonazis jagen zu lassen. Für die Geschichte sind sie im Grunde nutzlos, nicht umsonst beklagt sich im großen Finale eines der Gespenster, dass man alles – in diesem Fall das Umbringen Dales – selbst machen müsse.
… haben es Geister furchtbar leicht!
Ein Mann in der dunkelsten Phase seines Lebens – das ist Dale Stewart bereits, als wir ihn kennenlernen: als von der Gattin und den Kindern verstoßener Ehebrecher, den auch die Geliebte inzwischen sitzengelassen hat, ein mittelmäßiger Schriftsteller und Universitätsdozent, dessen Lehrstuhl wackelt und den die Kollegen meiden, ein von Depressionen geplagter Menschenwurm, der einen nur zufällig gescheiterten Selbstmordversuch hinter sich hat und auf Psychopharmaka angewiesen ist.
Nun versucht er den Neuanfang, löst sich von dem Chaos, zu dem sein Leben geworden ist – und gerät vom Regen erst recht in die Traufe. Ausgerechnet nach Elm Haven zieht es Dale. Vierzig Jahre ist es her, dass er hier eine aufregende Kindheit erleben durfte, deren düstere Aspekte freilich tief in seinem Gedächtnis begraben liegen. 1960 zog das Böse in Elm Haven ein, und es war nur zum Teil menschlicher Natur. Dale und seine Kinderfreunde von der ";Fahrradpatrouille"; stellten sich ihm und besiegten es, wobei sie Opfer zu beklagen hatten.
Dale überlebte, doch er musste seinen Preis zahlen. In seinem Unterbewusstsein hat er das Kapitel Elm Haven nie abgeschlossen. Kein Wunder, denn nicht alles, was vor vier Jahrzehnten umging, haben die Freunde damals ausschalten können. Da gibt es noch offene Enden, die endlich verknüpft werden wollen. Leider ist Dale Stewart nur bedingt tauglich für seine neue Mission. Die depressiven Anwandlungen lassen ihn fantasieren, bis sich die Erinnerungen an das verpfuschte Leben unheilvoll mit den Erscheinungen mischen, die ihn im gar nicht so ";Glücklichen Eck";, der alten McBride-Farm, heimsuchen. Geschickt lockt uns Verfasser Simmons in die Irre. Dales Visionen scheinen seinem eigenen, verwirrten Hirn zu entspringen. Doch so einfach ist es nicht. Dale wäre verloren, hätte er nicht einen unerwarteten Helfer: Duane McBride.
Auch hier sorgt Simmons für Überraschungen. Wer oder was ist dieser Duane? Der weiß es nicht einmal selbst. Als Geist sieht er sich nicht, und er weiß nichts vom Leben nach dem Tod. So kommt er zu dem Schluss, ein Gedankensplitter des einstigen Duane zu sein, der in Dales Erinnerungen fortexistieren konnte. Seither ist er ";Gast"; im Hirn seines ";Wirts"; und nimmt an dessen Leben teil. Darüber ist er selbst erwachsen geworden, obwohl er sich weiterhin als der Elfjährige sieht, der 1960 zu Tode kam. Seine Freundschaft zu Dale ist geblieben, so dass er diesem in der Stunde allerhöchster Not zur Seite stehen kann.
Geister: schrecklich banal und einfach schrecklich
Was sind Geister? Dan Simmons entscheidet sich für eine ";klassische"; Erklärung: Es sind die Seelen Verstorbener, denen der Übergang ins Jenseits misslingt, weil Zorn und Schmerz, resultierend aus einem im Leben ungelösten Konflikt, sie im Diesseits zurückhalten, wo sie ihre Frustration auch an Unschuldigen auslassen. Simmons wirft literarische Nebelbomben, indem er sich explizit (und womöglich ein wenig plakativ) auf einen frühen Meister der ";psychologischen"; Gespenstergeschichte bezieht: Henry James (1843-1916) schrieb 1909 ";The Jolly Corner"; (dt. ";Die Geschichte vom Glücklichen Eck";), eine Story, die den Protagonisten sich selbst als Geist und Spiegelung seiner unschönen Wesenszüge begegnen lässt. So ergeht es auch Dale Stewart, der in ";seinem"; Glücklichen Eck Dinge über sich lernen muss, an denen er lieber nicht gerührt hätte. Krankheit und Heimsuchung verschärfen die Wirkung seiner Selbsterkenntnisse, bis sie ihn neuerlich und dieses Mal beinahe endgültig umbringen.
So also spukt es in Elm Haven – anders, als sich der Leser das vorstellt. Simmons lässt sich halt nicht festnageln. Eine simple Fortsetzung des Geschehens aus ";Sommer der Nacht"; wäre möglich und die einfache Lösung gewesen. Die Kritik nennt ";Im Auge des Winters"; keines der ";guten"; Simmons-Werke, hebt aber seine Unterhaltsamkeit hervor. In der Tat fehlt diesem Werk die Opulenz anderer Romane des Autors. Hier will er freilich ";nur"; eine schlichte, kammerspielartige Geistergeschichte erzählen. Mag ";Im Auge des Winters"; vielleicht nur Mittelmaß sein, so ist es Simmons-Mittelmaß und damit nicht nur den meisten Gruselgeschichten turmhoch überlegen.
Dan Simmons, Heyne
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