Feuersignale – H.P. Lovecrafts Schriften des Grauens 25
- Blitz
- Erschienen: Mai 2022
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Feuerross ins Jenseits
- Silke Brandt: Der eiserne Zyklop - Ein Prosavorwort, S. 7-16: Ausgebrannt und verrostet liegt das Wrack des Zugs im eingestürzten Tunnel, doch in ihm steckt seltsames Leben.
- Stefan Grabiński: Der verlassene Ort - Eine Eisenbahnballade (Głucha przestrzeń - Ballada kolejowa; 1919), S. 17-38: Der ehemalige Lokführer beaufsichtigt eine aufgegebene Bahnstrecke, auf der es sich nächtlich seltsam rührt.
- Stefan Grabiński: Szateras Engramme (Engramy Szatery; 1926), S. 38-66: Bahnhofsvorsteher Szatera entdeckt eine Möglichkeit, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.
- Stefan Grabiński: Die Parabel vom Tunnelmaulwurf - Epilog zu Dämon der Bewegung (Przypowieść o krecie tunelowym; 1926), S. 67-86: Tief unter der Erde entdeckt der Tunnelwächter eine unbekannte Welt und ihre seltsamen Bewohner.
- Stefan Grabiński: Pyrotechnik: Ein astrales Märchen (Pirotechnik; 1922), S. 87-99: Sein Glück und seine Tragödien lässt Feuerwerker Jan in seine Raketen und Böller einfließen.
- Steve Rasnic Tem: Die Zwischenstation (The Way Station; 2019), S. 100-112: Für Sohn und Vater Polk steht eine Zugfahrt ins Jenseits an.
- Tobias Reckermann: Daemonion gravitatis, S. 113-129: Grüben steigt in ein Eisenbahnabteil, doch er gelangt nicht an sein irdisches Ziel, sondern reist in die Unendlichkeit.
- Jörg Kleudgen: Der Nachtzug, S. 130-147: Milosz liebt die Eisenbahn, aber als sie ihn am Ende seines Lebens in das Totenreich befördert, ist diese Erfahrung ebenso beglückend wie furchteinflößend.
- Jörg Fischer: Feuerblume, S. 148-181: Der Zug transportiert die Verletzten und Toten einer Schlacht. Die abgestumpften Ärzte und Pfleger achten kaum darauf, dass dies buchstäblich einen Blutsauger angelockt hat.
- Kazimierz Kyrcz Jr./Maciej Szymczak: Unsere Gebirge, S. 182-196: Eine aufregende Liebesgeschichte lockt die junge Frau dorthin, wo sie mit dem plötzlich gar nicht mehr netten Galan allein ist.
- Leif Matthiessen: Die Gabe, S. 197-230: Wisławs Zugfahrt entpuppt sich als Reise in die Hölle, wobei einige Passagiere einen Plan zur Vermeidung dieses Ziel umsetzen wollen.
- Felix Woitkowski: Violett, S. 231-263: Er hat einen Weg gefunden, Magie und Technik zu kombinieren, wurde unsterblich und gebietet über gewaltige Kräfte, doch seine Verfolger sind ihm seit vielen Jahren auf den Fersen.
- Teemu Korpijärvi: Die stählerne Grimasse, S. 264-283: Die neue Brücke soll den Fortschritt auch in das abgelegene Tal bringen. Der allzu sensible Tomasz Thurm betrachtet sie als feindlichen Eindringling, der aufgehalten werden muss.
- Nils Gampert: Stefan Grabiński und H. P. Lovecraft - Zwei Phantasten konstruieren das Andere, S. 284-295
- Biografien und Quellen/Fußnoten, S. 296-302
Alter Spuk und moderne Technik
Über Gold stolpert man entweder zufällig oder muss tief danach graben. Dies gilt auch für literarische Schätze. Das Programm des Blitz-Verlages wird eigentlich von eher leichtgewichtiger Retro-Unterhaltung dominiert. Doch es gibt Nischen, in denen Titel erscheinen, deren unerwartete Entdeckung erwartungsvolle Freude weckt. „Feuersignale“ ist so eine Überraschung - eine „Hommage à Stefan Grabiński“, obwohl dessen Name höchstens Experten-Ohren klingeln lässt.
Dabei gehört Grabiński (1887-1936) zu den großen Autoren der klassischen Phantastik. Genre-Experten kennen ihn auch jenseits der Grenzen seiner polnischen Heimat, da Teile seines Œuvres ins Englische (und Deutsche) übersetzt wurden. Deshalb enthält dieser Band u. a. einen Beitrag des Schriftstellers Steve Rasnic Tem, der ursprünglich 2019 in einer Sammlung mit dem flapsigen Titel „In Stefan’s House - A Weird Fiction Tribute to Stefan Grabiński“ in den USA erschienen ist.
Grabiński erwarb sich zwar zunächst kurzlebigen, aber unter Kennern nachhaltigen Ruhm als Autor phantastischer Kurzgeschichten, die einerseits tief im klassischen Horror des 19. Jahrhunderts wurzeln, der aber vom Verfasser andererseits mit der technikgeprägten Moderne des 20. Jahrhunderts kombiniert wurde. Dabei betrachtete Grabiński nicht nur, aber vor allem die Eisenbahn als Instrument eines ‚zeitgemäßen‘ Spuks. Seine Geschichten entstanden, als Europa verkehrstechnisch mit Hilfe eines dichten Schienennetzes erschlossen wurde.
Rasende Räder auf Schienen und im Kopf
Gern lässt Grabiński moderne, von ihm in ihrer maschinellen Komplexität detailliert beschriebene Züge durch Landschaften rasen, die ansonsten vom Fortschritt unberührt blieben und in denen sich seltsame Wesen gestört fühlen („Die Parabel vom Tunnelmaulwurf“). Umgekehrt kann sich Übernatürliches im Zug selbst manifestieren. Die Lokomotive wird unter Grabińskis Feder zum schnaubenden Feuerdrachen, der den Protagonisten Verwirrung und Tod bringt oder seine Passagiere ins Jenseits entführt („Der verlassene Ort - Eine Eisenbahnballade“). In „Szateras Engramme“ entwirft der Verfasser eine ‚wissenschaftliche‘ Spuk-Theorie, der zufolge Geister in Zeit und Raum fixierte bzw. projizierte Schattengestalten sind, die ihr Todesschicksal wieder und wieder durchspielen und erleiden müssen.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Eisenbahn ihren Nimbus als Fackelträgerin des Fortschritts längst verloren hat, leuchtet die Symbolik noch heute ein. Zudem hat Grabiński auch weitere Phänomene der Moderne genutzt, um seine Hypothese von Übernatürlichen zu unterstreichen, das sich einer von Naturwissenschaft und Technik geprägten Gegenwart anzupassen weiß („Pyrotechnik: Ein astrales Märchen“).
Die inhaltliche Wucht der Erzählung wird unterstützt von der eindrucksvollen Wortgewandtheit eines Verfassers, der wiederum kompetente Übersetzer benötigt. Den (bzw. die) hat er in „Feuersignale“ glücklicherweise gefunden, was das Vergnügen noch steigert, denn die hier präsentierten vier Grabiński-Storys sind hierzulande zuvor nie erschienen.
Auf, aber nicht in den Fußspuren des Meisters
Schließt man das „Prosavorwort“ der Herausgeberin ein, enthält diese Sammlung weitere acht Erzählungen, die als moderne Annäherung an Grabińskis Werk verstanden werden, aber keineswegs als inhaltliche oder stilistische Kopie im Sinne eines Pastiches gelten sollen. Den Autoren geht es um die besondere Stimmung einer Grabiński-Geschichte („Der eiserne Zyklop“), doch sie versuchen auch die Beschwörung jener Ausnahmesituationen, in denen Grabiński-Protagonisten sich wiederfinden. Sie werden dorthin gelockt oder trachten aus eigenem Willen dorthin zu gelangen, wo sich ein Ausweg aus bedrückenden Lebensumständen zu bieten scheint.
Manchmal erfüllt sich der Traum („Violett“), doch am Ende steht meist die Erkenntnis, dass man sich hat täuschen lassen („Die Zwischenstation“). Nicht Erlösung, sondern ein zusätzlicher, dieses Mal endgültiger Schlag steht am Ende einer solchen Passage, wie beispielsweise Herr Grüben feststellen muss, der sich buchstäblich auf eine Höllenfahrt begeben hat („Daemonion gravitatis“). Ob es Milosz gelungen ist der alltäglichen Qual, in die sich sein Leben verwandelt hat, tatsächlich zu entfliehen, bleibt offen; das Ende dieser (und seiner) Geschichte lässt sich positiv wie negativ werten („Der Nachtzug“).
„Feuerblume“ geht einen Schritt weiter und verknüpft den ‚Grabiński-Touch‘ mit realem Horror. Er tritt hier real in Gestalt des modernen, maschinellen Krieges auf, der Menschen im Akkord verstümmelt und tötet, aber auch seelisch abstumpft und ausbrennt, weil immer neue Gräuel sie überfordern. Der Zug soll in dieser Geschichte Verletzte von der Front bergen, die diese Fahrt mehrheitlich nicht überstehen werden, bevor sie der Krieg zuletzt wahrhaftig verheizt. Dass gleichzeitig ein Vampir durch diesen Zug geistert, kann in dieser in Leiden und Tod getränkten Umgebung keine besondere Aufmerksamkeit mehr erregen.
Offenen Auges in die Falle getappt
Dass man Grabiński auch missverstehen kann, belegen unfreiwillig Kazimierz Kyrcz Jr. und Maciej Szymczak in ihrer anfangs stimmungsvollen, in der Auflösung jedoch banalen Kurzgeschichte. Dies gilt auch für Leif Matthiessens Höllenfahrt, deren Plot auf dem Niveau eines „Jason-Dark“-Romanhefts die in Wort und Ton durchaus gelungene Umsetzung final zu Fall bringt.
Eine interessante Variante der üblichen Grabiński-Thematik präsentiert Teemu Korpijärvi. Seine Hauptfigur sieht in der modernen Technik den Feind einer Rückständigkeit, die von Romantikern gern mit zivilisationskritischer Naturnähe gleichgesetzt wird. Für Thurm wird die entstehende Brücke zum Frankenstein-Monster, das er notfalls mit Gewalt ‚seinem‘ Paradies fernhalten will. Er merkt nicht, wieso er mit dieser Sichtweise alleinsteht, und eine absurde Tragödie nimmt ihren Lauf.
Abgeschlossen wird die „Hommage à Stefan Grabiński“ von einem literaturwissenschaftlichen Vergleich Grabińskis mit H. P. Lovecraft, wobei sich die Argumentation bald im Kreis dreht, ohne echte Erkenntnis endet und höchstens einmal mehr unterstreicht, dass klingende Worte und Fußnoten keine Garantie für Inhaltswert darstellen.
Fazit:
Interessante und überwiegend gelungene Huldigung eines polnischen Altmeisters der Phantastik; hierzulande bisher unveröffentlichte Originalerzählungen werden durch neue Storys ergänzt, die den ‚Grabiński-Geist‘ aufnehmen, variieren oder in die moderne Gegenwart transportieren: eine Entdeckung für die Freunde der klassischen, symbolträchtigen Phantastik.
Silke Brandt, Blitz
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