Was unter dem Eis schrecklich (und) frisch blieb
Nur scheinbar gibt es keine Verbindungen zwischen diesen drei Ereignissen, die sich auf der hoch im Norden gelegenen Insel Island zutragen:
- Ausgerechnet im tiefen Winter will eine fünfköpfige Gruppe im abgelegenen Naturreservat Lónsöræfi wandern und zelten. Streit und Konditionsschwächen sorgen für Spannungen, doch ernst wird es, als sich in der eisigen Wildnis etwas rührt, das es offensichtlich auf das Quintett abgesehen hat.
- Auf einer US-Abhörstation freut sich Aufsicht und Hausmeister Hjörvar über die Abgeschiedenheit seines Arbeitsplatzes. Er verdankt ihn dem Selbstmord seines Vorgängers, der im Dienst übergeschnappt ist. Daran muss Hjörvar denken, als er beginnt Stimmen zu hören, ohne deren Urheber entdecken zu können.
- Im Garten von Kolbeinns Elternhaus wird ein Kinderschuh aus dem Gartenboden geborgen; er trägt den Namen einer Schwester, von deren Existenz Kolbeinn bisher nicht wusste.
Im Verlauf nur einer Woche sind viele der Protagonisten tot. Wie es dazu kommen konnte, wird oberflächlich geklärt. Dass es zwischen den erwähnten Personen sowie einigen Mitgliedern der Suchmannschaft zahlreiche Überschneidungen gibt, bleibt jedoch unbekannt: In einer gut vertuschten Vergangenheit wurzelt ein Drama, das von einem ‚unschuldigen‘ Mord und den bis in die Gegenwart reichenden Folgen geprägt wird. Dazu gehört nicht nur eine generationsübergreifende Geisteskrankheit, sondern auch eine damit verbundene ‚Hellhörigkeit‘, die bis ins Jenseits reicht; dort nutzen wütende Geister die Gelegenheit, sich (nicht nur) an denen zu rächen, die ihren Tod verursachten …
Schrecken der Kälte und des Wahns
Einen Namen machte sich Yrsa Sigurdardóttir als Autorin moderner Kriminalromane, die auf der Insel Island spielen. Mit ihren Serien um die Ermittlerin und Rechtsanwältin Þóra Guðmundsdóttir (2005-2011) und das Team Kommissar Huldar/Psychologin Freyja (ab 2014) wurde sie auch in Deutschland bekannt. Sigurdardóttir verbindet kriminelles Geschehen mit Sozialkritik und vergisst ihre Leserinnen nicht, für die allerlei Zwischenmenschlichkeiten eingemischt werden.
Typisch ist das Nebeneinander zunächst isolierter Handlungsstränge, die sich nach und nach verknüpfen und ein Gesamtgeschehen enthüllen. Hinzu kommt ein Talent für Atmosphäre und die Beschreibung isländischer Schauplätze, die von der Ortskenntnis der in Reykjavík geborenen und dort schon lange wieder lebenden Autorin profitieren. Dieses Mal bringt Sigurdardóttir uns das winterlich geprägte Hinterland eindringlich näherbringt, wobei „Winter“ auf Island ungeachtet des Klimawandels mehr als einen Hauch von Nordpolnähe mit sich bringt und für unmittelbare Lebensgefahr sorgen kann, was den Plot erweitert.
Hinzu kommt eine jahreszeitlich bedingte Dunkelheit, die nur wenige Stunden Tageslicht nicht ausgleichen können. Dies sorgt nicht nur für eine feindselige Umwelt, in die man als Isländer bereits beim Öffnen der Haustür gerät, sondern wirkt sich auch auf das menschliche Hirn aus, das in der Finsternis Schatten und Geräusche ortet, die auf reiner Einbildung beruhen. Aus Unsicherheit können Angst und Depression erwachsen, wobei einschlägig vorbelastete Personen besonders gefährdet sind.
Was war und was gewesen sein könnte
Damit haben wir die idealen Grundvoraussetzungen für eine Mystery-Mischung zusammen. In die gewählte Kulisse setzt Sigurdardóttir psychisch angeschlagene Zeitgenossen, die - sie stellt es klar - in keiner Weise krisentauglich sind. Sie vertreten den ‚Normalmenschen‘, sodass jede/r Leser/in eine Identifikationsfigur finden dürfte, was die Nähe zum Geschehen steigert.
Die erwähnte Parallelität unterschiedlicher Ereignisstränge ist einer Geschichte wie dieser förderlich. Man mag den „Cliffhanger“, der die Handlung auf der Spitze einer dramatischen Aktion abbricht, um diese erst in einem späteren Kapitel fortzusetzen, als faulen Trick bezeichnen, aber er funktioniert, wie Sigurdardóttir ihn einsetzt, wobei hilft, dass jedes Kapitel als Cliffhanger endet und jeder ‚Sprung‘ uns in spannende Konfliktsituationen zurückführt.
In „Schnee“ setzt die Autorin auf das Element der übernatürlichen Einmischung, ohne dabei die Elemente des Psycho-Krimis zu vernachlässigen. Während die Stimmung des klassischen bzw. zeitlosen Grusels ausgezeichnet getroffen wird, leidet der Plot jedoch unter einem Zuviel loser Enden, die zwar final zu einem Knoten geschürzt werden, der jedoch nicht ganz sauber gelingt: Obwohl Sigurdardóttir ein wahres Feuerwerk bisher geschickt verschwiegener Querverbindungen (die freilich manchmal allzu unwahrscheinlich wirken) abbrennt, bleiben nicht nur offene Fragen, sondern Logiklücken, die man einfach nicht ignorieren kann. So wundert man sich über Geister, die nachvollziehbar jene attackieren, denen sie ihre traurige Nachtod-Existenz verdanken, während sie gleichzeitig völlig Unschuldige entweder aufs Korn nehmen oder einfach in Ruhe lassen, wobei das Auswahlkriterium wohl auch deshalb ungeklärt bleibt, weil es keines gibt.
Die Furcht als Faktor irrationalen Verhaltens
Im Zentrum der Handlung steht eine Gruppe allzu selbstbewusster Wanderer, die den Rand der notfalls rettenden Zivilisation ein wenig zu weit hinter sich lassen und in der Not feststellen müssen, dass sie der Herausforderung nicht gewachsen sind. Die Angst vor der unwirtlichen Natur, die Kälte und die Dunkelheit summieren sich zu einer Panik, die sie Geister quasi schon sehen lässt, bevor diese tatsächlich auftauchen.
Sigurdardóttir hält sich hier eng an ein reales Rätsel, das seit 1959 für Furore sorgt, weil es nie wirklich zufriedenstellend gelöst werden konnte: Neun Skiwanderer starben unter mysteriösen Umständen am Djatlow-Pass im Norden des russischen (damals sowjetischen) Ural-Gebirges. Die Autorin greift immer wieder auf damals am Ort der Tragödie gemachte Entdeckungen auf, denn diese verstärken das Mysterium, weil sie dem rationalen menschlichen Verhalten schlicht widersprechen. Da sie eine fiktive Geschichte erzählt, kann Sigurdardóttir auf übernatürliches Wirken zurückgreifen, wobei man abermals ihre Fähigkeit betonen muss, für eine übernatürliche Schauer-Stimmung zu sorgen.
Als Kontrast dient ein Handlungsstrang, der auf menschliches Fehlverhalten setzt. Überhaupt bleibt trotz Einmischung aus dem Jenseits stets der Mensch verantwortlich für das zuletzt leichenreiche Geschehen. Daraus entsteht die Frage, ob der Spuk-Aspekt überhaupt notwendig gewesen wäre. Wohl nicht, doch lässt man sich darauf ein, stellt sich Grusel-Spaß als Mehrwert ein. Die auch vor der Auflösung interessant geschürten Erwartungen und die ökonomische, nicht gar zu tief in privaten Unwichtigkeiten gründelnde, überhaupt lesenswerte (bzw. gut übersetzte) Erzählung geben diesem Lektürefutter einen würzigen Geschmack!
Fazit:
Mehrere Handlungsstränge werden nach und nach zu einem Gesamtgeschehen verzwirbelt, in dem Verbrechen und Spuk sich die Waage halten. Vor allem atmosphärisch gelungen, lässt das Finale viele Fragen offen bzw. löst kapitale Logikfehler nicht auf: trotzdem als ‚Genremischling‘ gelungen.
Yrsa Sigurdardóttir, btb
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