Ein Totenschädel aus Zucker

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1971
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2022

Siebenfacher Schrecken aus jenseitigen Gefilden

Sechs Autoren und eine Autorin konfrontieren überforderte Männer mit dies- und jenseitigen Schrecken:

- Sam Moskowitz: Einführung (Introduction), S. 7/8

- Clemence Housman: Der Werwolf (The Were-Wolf; 1890), S. 9-45: Nur Sohn Christian erkennt die wahre Natur der schönen Frau, die im eisigen Winter die abgelegen = schutzlos lebende Familie be- und heimsucht.

- Mary W. Shelley: Die unheimliche Verwandlung (The Transformation; 1830), S. 46-64: Um sich an der verhassten Gesellschaft zu rächen, lässt sich ein junger Mann auf einen teuflischen Körpertausch ein.

- Robert W. Chambers: Das tödliche gelbe Zeichen (The Yellow Sign; 1895), S. 65-84: Die Lektüre eines uralten Buches lockt die Schergen des „Gelben Königs“ an, die jedem Leser ein grausiges Schicksal bescheren.

- Abraham Merrit: Tod im Geisterwald (The Woman of the Wood; 1926), S. 85-112: Im uralten Krieg zwischen den Menschen und den mystischen Mächten des Waldes wenden sich letztere hilfesuchend an einen Außenseiter.

- H. Russell Wakefield: Das Gespensterschloß (Blind Man's Buff; 1929), S. 113-118: Wieso der Preis so niedrig war, erfährt der Käufer, als er seinen neuen Besitz zum ersten - und letzten - Mal betritt.

- David H. Keller: Ein klarer Fall von Selbstmord (A Piece of Linoleum; 1933), S. 119-123: Über Jahre hat sie ihren Gatten voller ‚Liebe‘ so manipuliert, dass er nur noch einen Ausweg sieht.

- Ray Bradbury: Ein Totenschädel aus Zucker (The Candy Skull; 1948), S. 124-143: In einer kleinen mexikanischen Stadt versucht ein US-Gringo das Schicksal eines verschwundenen Freundes zu klären; zu seinem Pech hat er Glück.

Genese des Schreckens

„Die Fortschritte der Technologie und Wissenschaft konnten das Angstbedürfnis des Menschen nicht eliminieren, denn die menschliche Natur hat sich nicht grundlegend verändert. Reaktion auf Angst in notwendig für das Überleben, anscheinend selbst dann, wenn einer nur noch bei Lesen Furcht empfindet, während er warm, gesättigt und sicher in einem bequemen Lehnstuhl sitzt.“

Wunderbar bringt es Sam Moskowitz (1920-1997) in seinem Vorwort zu dieser kleinen, aber feinen Sammlung meist klassischer Horrorgeschichte auf den Punkt, wieso der Mensch sich so gern in Schrecken versetzen lässt, obwohl er die Sicherheit vorziehen müsste. Wir sollten ihm dankbar für diese kurze, aber kluge Einleitung sein, in der Moskowitz vorgibt, nur als Helfer fungiert zu haben, als Alden Holmes Norton (1903-1987) diese Sammlung zusammenstellte.

Wie einschlägig informierte Fachleute zuverlässig wissen, hat Moskowitz die gesamte Arbeit erledigt, als (oder weil) Norton nicht liefern konnte. Der war ohnehin kein ‚echter‘ Autor, sondern jemand, der über das Horrorgenre Bescheid wusste, entsprechende Artikel verfasste und (tatsächlich) einige Magazine und Anthologien herausbrachte.

Das Böse als Element des Daseins

„Ein Totenschädel aus Zucker“ wurde diese Sammlung hierzulande betitelt, um potenzielle Leser = Käufer anzulocken. Tatsächlich erfüllt nicht einmal die Titelstory den damit erweckten Eindruck morbiden Grauens. „Masters of Horror“ ist der ursprüngliche Titel, der das Oberthema sehr viel besser zusammenfasst: Wieso folgt uns das Böse - hier definiert als Folge rational nicht erklärbarer Schrecken - in eine ‚aufgeklärte‘ Ära, in der für Aberglaube und Falschvorstellungen kein Platz mehr sein sollte?

Weil die Furcht eben auch ein Element der Unterhaltung ist, wie Sam Moskowitz es ausdrückt. Mary Wollstonecraft Shelley (1797-1851), unsterblich als Autorin von „Frankenstein“ (1818), steht diesbezüglich noch auf der Kippe: Ihr (Anti-) Held wird ganz klassisch vom Teufel versucht, der hier als reale Figur auftritt. Doch anders als früher ist es nun möglich sich zu wehren, obwohl man gegen ‚göttliche‘ Gebote verstoßen hat, sodass besagter Held geläutert der ewigen Verdammnis entkommt.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später ist die von Spuk erfüllte Alltagswelt der Vergangenheit nur noch Kulisse. Clemence Housman (1861-1955) lässt sie nicht ‚realistisch‘, sondern künstlerisch überhöht wiedererstehen. Erneut ist es vor allem die Moral von der Geschicht‘, die an klassische Vorbilder erinnert: Gottesfurcht und Opferwille sorgen für die (melo-) dramatische Auflösung einer allerdings ausgezeichnet erzählten Gruselmär.

Aus den Nischen

Wieder einen Schritt weiter geht Robert William Chambers (1865-1933). Technik und Naturwissenschaften legten doch nicht wie erwartet sämtliche Rätsel offen. Stattdessen öffneten sich buchstäblich neue Dimensionen, in denen ein Grauen existieren konnte, das den Menschen nicht direkt, sondern überhaupt attackiert: Das Fremde wird feindlich, weil dies seine Natur ist. Der beherzte Kampf ist sinnlos, weil der Mensch außerstande ist zu begreifen, wer ihm gegenübersteht. R. W. Chambers gehört mit diesem Konzept zu den Autoren, die H. P. Lovecraft (1890-1937) zu seiner Kosmologie seltsamer, feindseliger ‚Götter‘ inspirierten. Der „König in Gelb“ steht im Mittelpunkt einer Reihe lose miteinander verbundener Erzählungen, die stets nur einen Zipfel des Gesamtgeheimnisses bieten und gerade deshalb für Schrecken sorgen.

Abraham Merritt (1884-1943) greift scheinbar auf phantastische Elemente der Vergangenheit zurück, wenn er Nymphen und Elfen wiederaufstehen lässt. Doch im Vordergrund dieser ((im Original wesentlich treffender als „The Woman of the Wood“ betitelten) Story steht wie so oft bei Merritt die Konfrontation dieser Vergangenheit mit einer auf Fakten pochenden Gegenwart und einer daraus resultierenden, die Ration Lügen strafenden Konsequenz.

Herbert Russell Wakefield (1888-1964) benötigt nur wenige Seiten, um seinen Protagonisten mit dem wohl schlimmsten Schrecken des modernen Horrors zu konfrontieren: Der Mensch selbst ist sein übelster Feind. Noch schlimmer: Das eigene Hirn kann sich gegen ihn wenden. Wir wissen nicht, was Mr. Cort in der Dunkelheit des erworbenen Herrenhauses begegnete. Waren es wirklich Gespenster - oder war es die eigene Angst, die ihn überwältigte? Wakefield bedient mit einem genialen Epilog beide Auflösungen und erweist sich abermals als zu Unrecht übersehener Meister des klassischen Horrors.

Monster Mensch

David H. Keller (1880-1966) war ein Psychologe, dessen Praxis so schlecht lief, dass er als Autor für die zeitgenössischen „Pulp“-Magazine schrieb. Gern griff er dabei auf seine medizinische Erfahrung zurück. Aus heutiger Sicht ist sein Wissen veraltet und wird zum Teil von Vorurteilen getrübt. So würde man ihn für das in „Ein klarer Fall von Selbstmord“ vermittelte Frauenbild heutzutage in die für #MeToo-Unholde reservierte Wüste jagen. Ungeachtet dessen beeindruckt diese Story als Psychogramm einer psychotischen Ideal-Ehefrau, die ihren Gatten systematisch unter Kontrolle bringt, ihn ‚dressiert‘ bzw. ‚entmannt‘ und unbarmherzig ihre ‚Güte‘ spüren lässt, bis er aufgibt.

Ray Bradbury (1920-2012) setzt den Schlusspunkt mit einer seiner frühen Kurzgeschichten. Er greift geschickt auf makabre Elemente der lateinamerikanischen Mystik zurück und versöhnt auf diese Weise mit einer nüchtern betrachtet eher kruden Story: Hier steht die Atmosphäre im Vordergrund, und Bradbury wusste sie heraufzubeschwören!

Anmerkung: Wie so oft unterlag die deutsche Ausgabe der üblichen Seitennormierung. Zwei Erzählungen fielen ihr zum Opfer:

- Bram Stoker: Dracula's Guest

- Henry Kuttner: Before I Wake ...

Die Dracula-Story lässt sich leicht verschmerzen, denn sie tauchte zuvor und auch später immer wieder in Sammlungen auf. Kuttners Geschichte vermisst man dagegen sehr, denn sie blieb bisher ohne Übersetzung.

Fazit:

Kurze Sammlung überwiegend hochwertiger Erzählungen, die den Schrecken sowohl ‚außen‘ als klassisches Gespenst, aber auch ‚innen‘ als psychologische Heimsuchung lokalisieren: ein kleines Juwel für die Fans ‚altmodischen‘ oder besser: intensiven Horrors.

Ein Totenschädel aus Zucker

Alden H. Norton, Heyne

Ein Totenschädel aus Zucker

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