Die Nacht der Schaufensterpuppen (Cemetery Dance Germany SELECT '22)
- Buchheim Verlag
- Erschienen: Oktober 2022
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Schauriges tun, um das Schreckliche zu verhindern
Rockwell im US-Staat Texas ist die Heimatstadt von Sawyer, Shanna, Tim, JR und Danielle. Seit dem Kindergarten sind sie Freunde, durchstreifen Stadt und Umland und treiben allerlei Unsinn. Doch die Highschool naht, und aus Kindern werden Teenager, die von der Pubertät regiert voller Unruhe, Ungeduld und Angst an eine Zukunft denken, in der sich ihr Leben grundlegend verändern wird.
Noch einmal zieht das Quintett in diesem Sommer los. Im Wald stößt man auf eine männliche Schaufensterpuppe. Sie wird „Manny“ getauft und dient in den folgenden Wochen als Instrument für zahlreiche Streiche, bis das Interesse nachlässt. Manny landet in der Garage der Familie Sawyer - aber dort bleibt er nicht.
Das glaubt jedenfalls Sawyer, der beobachtet hat, wie Manny eines Tages aufsteht. Die Freunde glauben ihm nicht, obwohl Manny tatsächlich verschwunden ist. Sawyer sieht ihn in der Nacht um das Haus der Familie schleichen. In der Nachbarschaft häufen sich Einbrüche in Garagen und Gartenhäuser; gestohlen wird Pflanzendünger.
Von dem ernährt Manny sich, davon ist Sawyer überzeugt, und diese inhaltsreiche Kost lässt ihn wachsen. Inzwischen müsste Manny so groß wie ein Dinosaurier sein, schätzt Sawyer, und er scheint es seinen ‚Spielgefährten‘ zu verübeln, dass sie ihn abgeschoben haben. Sawyer fürchtet, dass der gigantische Manny rachsüchtig über Rockwell herfallen und alle Bewohner töten wird. Das Ungeheuer könnte besänftigt werden, aber das erfordert aus Sawyers Sicht (nicht nur) ein Opfer ...
Kleiner Hirnschaden mit gewaltiger Wirkung
Der Schrecken schleicht sich aus zwei Richtungen an uns heran. Nummer eins bietet jenen Geschöpfen eine Bahn, die aus dem Jenseits oder einer unbekannten Dimension in unsere Realität kommen, um uns zu plagen. Mit ihnen kann man sich auseinandersetzen, denn sie sind auf ihre Weise präsent und ungeachtet ihrer Fremdartigkeit angreifbar.
Hilflos ist man in der Regel jedoch, wenn Nummer zwei begangen wird. Hier handelt es sich eigentlich nicht um einen Weg, denn Start und Ziel sind identisch: Unheimliches entwickelt sich im Menschhirn, haust dort und sorgt für das ultimative Grauen, indem es besagtes Organ sabotiert. Wir nehmen unsere Umwelt und unsere Mitmenschen durch jenen Filter wahr, den das Hirn über unsere Sinnesorgane legt. Was dort eintrifft, wird sortiert und interpretiert. Faktisch sehen, hören, riechen oder fühlen wir nur, was uns das Hirn sehen, hören, riechen oder fühlen lässt.
Wenn es diesen Dienst aufkündigt und damit beginnt, sinnliche Eindrücke falsch zu ‚übersetzen‘, ist die Tragödie vorgezeichnet. Meist beginnt der Zerfall schleichend und wird von den Mitmenschen oder sogar den Betroffenen nicht wahrgenommen. Dies führt zu einer Kette fehlerhafter, nach und nach grotesker und gefährlicher Reaktionen, die sich zu einer Lawine entwickeln, urplötzlich losbrechen und Unbeteiligte verletzen oder gar töten kann.
‚Unbeschwerte‘ Kindheit in „God’s Own Country“
Dies beschreibt auch die Geschichte, mit der uns Autor Stephen Graham Jones hier konfrontiert. Der Plot klingt mehr als vertraut, doch es kommt wie so oft nicht auf die Idee, sondern auf die Umsetzung an. Jones arbeitet trügerisch mit Motiven, die konservative bzw. von den Widrigkeiten des Alltagslebens beunruhigte Menschen mit allgemeinem Wohlbefinden identifizieren. Sie erträumen sich eine Welt aus Idealen, die sich vor allem aus Erinnerungen an ‚glückliche Kindheitstage‘ und von den Medien aufgeschäumten Klischees zusammensetzt: Der Sommer ist lang und heiß, die Schule und damit das ‚wirkliche‘ Leben fern; sorglos verbringt man die Tage zusammen mit besten Freunden und erlebt außerhalb erwachsener Aufsicht ungefährliche ‚Abenteuer‘.
Wie man in dieser Idylle lose Kanten aufspürt, aufreißt und dahinter nach und nach Schreckliches und Schauerliches zum Vorschein bringt, hat Stephen King keineswegs erfunden, aber spätestens mit „It“ („Es“, 1986) quasi zu einem Genre verdichtet, das sich literarisch wie multimedial verbreitet hat und zu einem Gemeinplatz geworden ist: Wo Kinderfreunde sich unbeschwert tummelt, erwartet man den Einbruch des Grauens!
Ein möglichst friedlicher Einstieg ist wichtig. Furcht gedeiht besser, wenn sie reifen kann. In diesem Punkt weicht Jones vom Schema ab, denn „Die Nacht der Schaufensterpuppen“ ist ein kurzer Roman, weshalb nicht der Raum bleibt, in juvenilen Freuden zu schwelgen, um diese dann zu zerstören. Jones muss ein hohes Tempo vorlegen, weshalb bereits im Anfangskapitel deutlich wird, dass Sawyer und seine Freunde keineswegs ein Dasein in paradiesischem Frieden leben.
Die Welt hat sie längst am Haken
Elterliche Arbeitslosigkeit, vor den Kindern nur unzureichend verborgene und deshalb erst recht erschreckende Konflikte zwischen Vater und Mutter, Überfürsorglichkeit bzw. Vernachlässigung, die aus pubertärer Sicht erdrückende Allgegenwärtigkeit und Allmacht von Erwachsenen, die Kinder und Teenager nicht verstehen: Solche und andere Unbequemlichkeiten enthüllt uns Sawyer, wenn er seine Geschichte erzählt.
Jener Misston, der zum Auslöser der Katastrophe wird, klingt in Nebensätzen an. Wir erfahren beiläufig, dass Sawyer Medikamente nimmt, die sein Hirn ‚beruhigen‘, das sonst auf Hochtouren rast und dabei (s. o.) aus dem Takt geraten kann. Dies ist offenbar bereits geschehen, denn Sawyer nimmt diese Mittel nicht mehr, was deutlich wird, als sich in den Erzählton des gelangweilten, zukunftsängstlichen Teenagers Hektik und Wahnvorstellungen mischen. In Sawyers isolierter Welt klingt plausibel, was er sich zusammenreimt. Er ‚muss‘ handeln und über sich hinauswachsen, um wie aus Film, Fernsehen, Comic und Buch bekannt das Monster niederzuringen, bevor es über Rockwell kommt.
Diese ‚Logik‘ ist wesentlich gefährlicher als ein Ungeheuer, das im nahen See schlafen könnte. Während Manny womöglich durch die Dunkelheit tappt, um seine ‚Freunde‘ (heim-) zu suchen, wird Sawyer unmittelbar aktiv. Die ‚Lösung‘ für das Manny-Problem beschäftigt (und zerstört) ihn, aber er sieht keine Alternative und macht sich für seine Familie, die Familien der Freunde und die Bürger von Rockwell die Hände blutig. Dass der Autor das Drama nicht in die Länge zieht, sondern in heutzutage selten gewordener Erzählökonomie präsentiert, unterstützt die Wucht dieser Geschichte. Dieser Ansicht waren nicht nur die Leser, sondern auch die Literaturkritiker, die diesen Roman mit einem „Bram Stoker Award“ für den besten Roman (2020) und einen „Shirley Jackson Award“ für den besten Kurzroman (2021) auszeichneten. Dass Stephen Graham Jones ein Name ist, den sich die Freunde hintergründigen Horrors merken sollten, bestätigte sich, als der Autor 2024 mit einem „British Fantasy Award“ für seinen Roman „Don’t Fear the Reaper“ prämiert wurde.
Fazit:
Der Horror beginnt klassisch, d. h. nimmt die Gestalt einer unheimlichen Kreatur an, enthüllt dann jedoch einen psychologischen Aspekt, der das Geschehen in ein neue, sogar noch unheimlichere Richtung treibt: ein kurzer, aber überzeugender Ausflug dorthin, wo der Schrecken haus- bzw. hirngemacht ist.
Stephen Graham Jones, Buchheim Verlag
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