Die Schneiderin von Prag
- Heyne
- Erschienen: Oktober 2005
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Mann aus Lehm liebt Frau mit Goldherz
Zu Prag residiert im Januar des Jahres 1601 im Hradschin, seinem prächtigen Palast, Rudolf II. von Habsburg, König von Böhmen und Ungarn sowie römisch-deutscher Kaiser. Der vielleicht mächtigste Mann Europas ist ein Exzentriker mit manisch-depressiven Anwandlungen, der an Magie glaubt und an seinem Hof Alchemisten und Astrologen beschäftigt. Den mental instabilen Rudolf zu verärgern oder zu enttäuschen ist höchst gefährlich. Als er seinen Leibarzt und Vertrauten Kirakos mit seiner aktuellen Leidenschaft - der Jagd nach dem ewigen Leben - konfrontiert, trachtet dieser danach, sich rasch aus der Schusslinie zu bringen. Er setzt Rudolf den Floh ins Ohr, die beiden englischen Forscher und Geisterseher John Dee und Edward Kelley anzuheuern.
Die Suche nach der Essenz des Lebens ist kostspielig. Zahlen sollen diese Zeche wieder einmal die im katholischen Habsburgerreich ungeliebten Juden. In ihrer Not suchen diese ihr Heil in der Magie. Rabbi Löw erschafft aus Lehm Jossel, den Golem - einen künstlichen Menschen, riesengroß, bärenstark, stumm, ohne Furcht. Er soll die Gemeinde schützen. Das tut er, doch der Golem ist keineswegs die seelenlose Kreatur, für die ihn alle halten. Er entwickelt Geist und Gefühle - und er bleibt unberechenbar.
Die junge Schneiderin Rochel ist wie der Golem eine Ausgestoßene. Gerade wurde sie mit dem Schuhmacher Zeev Werner vermählt. Stattdessen entflammt ihr Herz für Jossel. Dieser ist nicht abgeneigt. Um die Situation weiter zu verkomplizieren, lässt der immer geile Rudolf die schöne Rochel in das kaiserliche Schlafgemach verschleppen. Als der Golem Rache davon erfährt, schwört er Rache ...
Umbruchphase einer fernen Vergangenheit
Dies ist nicht der Ort, die komplexe Geschichte der Golem-Sage nachzuerzählen oder Einblick in die Welt der jüdischen Mystik zu nehmen. Frances Sherwood greift jedenfalls auf jene Variante zurück, die sich im habsburgischen Prag abgespielt haben soll. Freunde des wirklich alten Kinos kennen sie aus den Filmen von Paul Wegener. „Der Golem“ (1914), „Der Golem und die Tänzerin“ (1917) und „Der Golem: Wie er in die Welt kam“ (1920) setzten die Maßstäbe, an denen sich die meisten späteren Bearbeitungen der Legende orientierten. Der böse Kaiser, die bedrängten Juden, das Getto, der zaubermächtige Rabbi Löw, der entfesselte Golem, seine Zähmung durch die Liebe einer Frau (bzw. eines Kindes) - Motive, derer sich auch Sherwood ausgiebig bedient.
Sie führt die Sage gleichzeitig auf ihren Ursprung zurück, wenn sie den Golem nicht als Produkt alchemistischer oder gar schwarzmagischer Praktiken erschaffen lässt, sondern seiner Schöpfung das kabbalistische Wissen um die Geheimnisse des Lebens zu Grunde legt. Mit solchen und vielen anderen ‚Korrekturen‘ geht eine intensive, meist wohldosierte, weil nicht detailverliebte Rekonstruktion der Welt des Jahres 1600 einher, der sie buchstäblich Gesichter gibt.
Im Schatten des Hradschin-Palastes lebt eine jüdische Gemeinde, welcher der berühmte Rabbi Löw vorsteht. Kaiser Rudolf steht bei diversen jüdischen Bankiers tief in der Kreide und würde skrupellos die Chance nutzen, sich seiner Gläubiger zu entledigen, fände er einen geeigneten Vorwand. Die Kirche lauert in Gestalt des fanatischen Paters Taddäus auf ihre Chance, die verhassten Juden zu vernichten. Und nicht weit vor den Toren der Stadt stehen die Türken.
In Maßen historische Realitäten
Frances Sherwood (1940-2021), ehemalige Professorin für Englische Literatur, stellt die historischen Fakten in den Dienst der Handlung. Dabei spart sie nicht an Drastik, wenn sie zum Beispiel das in den großen Städten dieser Zeit niemals zufriedenstellend gelöste Abfallproblem beschreibt. Dem buchstäblich zum Himmel stinkenden Prag stellt sie jedoch nicht platt die kleine Idylle der jüdischen Gemeinde gegenüber. Dort ist es zwar sauber; dies aber weniger, weil es der gesunde Menschenverstand gebietet, sondern strenge religiöse Vorschriften es verlangen. Auch leben im Getto keineswegs im Unglück der allgegenwärtigen Unterdrückung und Bedrohung geeinte, im Glauben glückliche Juden, sondern Bürger, die sich vom Leben das Gleiche wünschen wie ihre christlichen Nachbarn: Frieden, Wohlstand, niedrige Steuern. Konkurrenzdenken und Ellenbogen sind auf der Jagd nach dem Glück nicht unbekannt.
Streng geht es auch im Zwischenmenschlichen zu. Die Verheiratung von Rochel und Jeez Werner wird von der Gemeinde beschlossen. Rochel hat sich dem zu fügen. Dass sie es tut, statt den im Historienroman üblichen emanzipierten Feuerkopf zu mimen, spricht wiederum für Sherwoods Realismus, den sie geschickt und spannungsförderlich einsetzt. Pogromstimmung schwebt drohend über Prag. Ungeklärte Verbrechen, wirtschaftliche Krisen, militärische Niederlagen - für alle negativen Ereignisse müssen die Juden buchstäblich den Kopf hinhalten. Rassistische Wahnideen, Angst, die durch Unwissen entsteht, sowie Neid auf erfolgreiche Kaufleute, Gelehrte, Bankiers jüdischen Glaubens schüren solchen Terror.
Prag im Jahre 1600 steht für eine Welt im geistigen Umbruch. Am Horizont zeichnet sich bereits vage die moderne Wissenschaft ab. Noch beherrschen Aberglaube und Zauberei die Gedanken der Menschen. Für Rudolf II. arbeiten Forscher wie Tycho Brahe und Johannes Kepler, die wir heute als Pioniere der Astronomie verehren. Sie waren aber auch - darauf macht uns Sherwood aufmerksam - Sterndeuter und Goldmacher. Ihr Treiben mit geheimnisvollen Essenzen in prachtvoll mysteriösen Labortürmen kennen und lieben wir aus unzähligen Fantasy-Romanen und -Filmen.
Übernatürliches ohne Pathos
In einer Welt, die ein offenes Ohr für das Mystische und Übernatürliche besitzt - Rudolf bemüht sich in Sachen Elixier der Unsterblichkeit u. a. um den Rat eines gewissen Vlad Dracul aus dem gar nicht so fernen Transsylvanien -, ist ein Golem kein Fremdkörper. Jossel integriert sich in die Geschichte, ohne deren realistisch-historischen Elemente zu verwirren. Hilfreich ist, dass Sherwood ihre Geschichte nicht bierernst nimmt. Besonders den alltäglichen Wahnsinn am Hofe Kaiser Rudolfs weiß sie mit sarkastischem Witz in Szene zu setzen.
Der lässt sie leider im Stich, wenn sie meint ernst werden zu müssen. Das betrifft die Liebesgeschichte zwischen Rochel und Jossel, die unter allzu bekannten Klischees ächzt, aber auch die Beschäftigung mit der jüdischen Glaubenswelt. Hier hat Sherwood intensiv recherchiert und möchte davon auch Kunde geben. Doch nicht jede/r Leser/in interessiert sich für Religionstheorie, sodass diese Passagen Längen aufweisen.
Der Realismus kehrt zurück, sobald der Kaiser ins Geschehen tritt. Rudolf II., absoluter Herrscher und als solcher den profanen Wünschen seiner Untertanen enthoben, ist ein Mann, der sich in seiner privaten Sphäre eingesponnen hat und wahnhafte Züge trägt, was ihn potenziell gefährlich werden lässt. Menschen sind für ihn Schachfiguren, Diener, Bettgenossen - nur für ihn wurden sie geschaffen: lauter kleine Golems, die zu Rudolfs Leidwesen indes genauso wenig funktionieren wollen wie ihr großes Vorbild.
Ungewöhnliche Liebe
Der klassische Golem war eine erträumte Schutzfigur der Juden. Sherwoods Jossel ist mehr; er besitzt eine Persönlichkeit. Nicht von ungefähr erinnert er an seinen oft und gern trivialisierten Nachfahren, das Frankenstein-Monster, das mit ähnlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Die Autorin meidet allzu ausgefahrene Geleise. Jossel ist ein Riese, aber durchaus ansehnlich, intelligent und keineswegs naiv. Die Menschen fürchten ihn wegen seiner Größe und unheimlichen ‚Geburt‘, betrachten ihn jedoch nicht unbedingt als Monster.
Rochel, die „Schneiderin von Prag“ des Titels, ist ein als Hauptfigur eine überraschend passive und sogar uninteressante Person. Hat Sherwood es so geplant? Schließlich ist Rochel kaum 18 Jahre alt und in einer von Männern dominierten Welt aufgewachsen. Sie kann nicht lesen oder schreiben, bleibt ein Spielball ihrer diversen Herren - und ihrer Gefühle. Letztlich ist sie das archetypische Mädchen, um das sich das Monster (= der Golem) mit den üblichen spektakulären Folgen bemüht. Das Finale folgt ungeachtet diverser dramaturgischer Variationen der Vorlage und bringt das Geschehen erwartungsgemäß - d. h. spannend und tragisch - zum Abschluss.
Fazit:
Mit Schwung und angenehmer ironischer Distanz erzählte Geschichte, die sich nicht in der bloßen Rekonstruktion der frühneuzeitlichen Welt verliert. Zur Handlung eingeflochten wird allerdings eine Liebesgeschichte, die diese Tugenden vernachlässigt und in Herz-Schmerz-Klischees abrutscht, was den ansonsten positiven Eindruck verwässert.
Frances Sherwood, Heyne
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