Am Morgen einer anderen Zeit
- Moewig
- Erschienen: Februar 1983
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Angst vor der Rückkehr der Zukunft
Acht Jahrzehnte liegt jene atomare Katastrophe zurück, die der Zivilisation erdweit ein Ende bereitet hat. Nur wenige Menschen überlebten - meist außerhalb der großen Städte, weshalb das Leben auf dem Land in den USA als Überlebensmaßstab gilt. Die Gründung neuer Städte ist ebenso verboten wie die Beschäftigung mit den meisten Naturwissenschaften, denn man fürchtet eine Wiederholung der Apokalypse. Religiöse Führer achten fanatisch auf die Einhaltung dieser Gesetze/Gebote. Wer dagegen verstößt, fällt dem Volkszorn zum Opfer und wird gesteinigt.
Trotzdem wollen nicht alle den Status Quo zementieren. Zu verführerisch ist für manche der Mythos von Bartorstown, wo man das Wissen um die verfemte Technik bewahrt hat. Die Vettern Len und Esau Colter sind neugierig genug, sich trotz des Risikos für Bartorstown zu interessieren. Dies wird entdeckt und bestraft, woraufhin die beiden jungen Männer flüchten. Da sie keinen Hinweis darauf finden, wo Bartorstown liegen könnte, siedeln sich Len und Esau entmutigt in einem weit von ihrer Heimat entfernten Ort an. Die Liebe zu einer Frau entzweit sie, aber ihr Streben nach Gedankenfreiheit und Fortschritt bleibt - und bringt sie in Lebensgefahr, als sie sich gar zu offen auf die Seiten ähnlich denkender Mitbürger schlagen.
Der Katastrophe können Len und Esau entkommen, weil sich die Agenten von Bartorstown, die sie lange beobachtet haben, auf ihre Seite schlagen. Die Vettern gelangen endlich ans Ziel. Doch Bartorstown unterscheidet sich drastisch vom Ort ihrer Sehnsüchte. Sind sie endlich ‚angekommen‘? Oder geht die Suche weiter …?
Wunsch & Wirklichkeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sowjetunion vom „Waffenbruder“ zur „Roten Gefahr“ mutiert. Ost und West waren im Besitz der Atombombe, und es sah so aus, als könne sie im Rahmen eines dritten Weltkriegs zum Einsatz kommen. Was dies bedeutete, war in den USA durchaus klar: Beide Parteien, ihre Verbündeten und letztlich die gesamte Erde würden untergehen bzw. verwüstet.
Innerhalb der eigenen Grenzen sah man sich vor einer weiteren Herausforderung. Die Sorge vor einer Unterwanderung durch „die Kommunisten“ schuf ein Klima der Angst und der Paranoia. Bürger, die nicht einverstanden waren mit der hysterischen, faktisch illegalen Verfolgung des ‚Feindes‘, wie ihn reaktionäre Kräfte konstruierten, wurden eingeschüchtert und verfolgt.
Leigh Douglass Brackett (1915-1978) griff dies schriftstellerisch auf. „Am Morgen einer anderen Zeit“ ist ein „Coming-of-Age“-Roman mit abenteuerlichen Elementen; eine Geschichte, die quasi SF-getarnt sehr gegenwärtige Probleme in Wort fasste. Brackett setzte darauf, dass ihre Kritik denen entging, die überall ‚Spione‘ und ‚Saboteure‘ witterten. In den 1950er Jahren erschienen zahlreiche Romane, in denen es atomar krachte. Oft schlugen die Autoren sich auf die Seite der „Falken“, die einen siegreichen Atomkrieg für möglich hielten, oder sie konzentrierten sich auf die ‚unterhaltsamen‘ Aspekte des Weltuntergangs: Monster, Mutanten, Metzeleien.
Angst ist ein schlechter Ratgeber
Weiterhin entstanden SF-Romane, in denen Jugendliche die Hauptrollen spielten; viele dieser Werke zielten ausdrücklich auf junge Leser. Bedeutende Autoren waren sich dafür keineswegs zu schade und schufen sogar Klassiker des Genres. Im Vordergrund stand der verlockende Gedanke, etwas „Nützliches“ für besagte Jugend zu tun = sie in jene Richtung zu locken, in die auch die Zukunft laufen sollte.
Oft wurde Gedankengut konserviert, das einer Regierung das Wort redete, die den „Kalten Krieg“ notfalls ‚heiß‘ führen wollte, die USA (und die weniger wichtigen, aber ‚freien‘ Erdstaaten) von ‚roten‘ Agenten unterwandert sah und wehrhafte Wachsamkeit predigte. Diese SF-Autoren schwelgten in militärischem Glanz, setzten kollektiven Gehorsam über Gedankenfreiheit und ließen einen Atomkrieg wie einen Abenteuerurlaub bzw. eine ‚Bewährungsprobe‘ wirken.
Brackett setzt dem mit „Am Morgen einer anderen Zeit“ ein deutlich differenzierteres Weltbild entgegen. Es erschöpft sich nicht in der bloßen Umkehrung der genannten Klischees, sondern thematisiert die Sorge über eine potenziell zerstörerische Nukleartechnik und bezieht dies in die Handlung ein: Während Esau Colter begeistert und bedingungslos daran teilnimmt, über Bartorstown den Fortschritt zurück in die Welt zu bringen, verharrt Len in Selbstzweifeln. Die Argumente gegen eine Rückkehr zu Technik und Verstädterung sind keineswegs von der Hand zu weisen. Als diese Geschichte endet, lässt Brackett offen, ob die ‚Entschärfung‘ der Atomkraft gelingen oder sich die Geschichte vernichtungsstark wiederholen wird.
Die Positionen verwischen sich
Esau ist ein „Macher“, Len ein „Grübler“, beide sind sie unzufrieden mit einem Leben, das sie einschränkt. Die Beschäftigung mit der (technischen) Vergangenheit ist per Gesetz verboten, doch gefährlicher ist der Fanatismus, der dazu führt, dass ‚Ketzer‘, die gegen „Gottes Wille“ verstoßen, grausam umgebracht werden. Für Brackett ist Religion eine Quelle realer Gefahr: Dies überrascht in einem ‚Trivialroman‘ aus alter Zeit. Die Autorin bemüht sich um eine ausgewogene Darstellung. Dass die daraus resultierende Zukunft nicht lebenswert wirkt, obwohl ihre Bewohner eine naturnahe Existenz führen, die man heute ‚ökologisch verantwortungsvoll‘ nennen könnte, ist eine weitere Überraschung.
Die Alternative stellt keine Generallösung dar. Bartorstown hat seine eigenen Probleme. Faktisch geht es dort nicht um die Rückkehr in eine technikorientierte Welt, sondern um die Austreibung jenes Dämons, der die friedliche Nutzung der Atomkraft unmöglich macht. Erst im Anschluss soll der Fortschritt zurückkehren, doch es ist fraglich, ob dies geschehen wird, weil sich das grundsätzliche Problem erfolgreich einer Lösung widersetzt.
Bartorstown ist nicht das Paradies, der Rest der Welt keine Hölle. Beide Welten haben ihre Vor- und Nachteile. Während Esau sich sofort entscheidet, ringt Len mit seinen Zweifeln. Er konnte die Gedankenenge seiner ‚alten‘ Heimat nicht ertragen, doch Bartorstown ist auch keine Lösung. So schwankt er orientierungslos zwischen Gegenwart und ‚Zukunft‘. Diesen Weg muss er bis zum bitteren Ende gehen. Als er sich endlich entschieden hat, liegt eine harte Zeit hinter ihm.
Keine Monster und Mutanten
Für Brackett steht dieser Reifeprozess im Mittelpunkt. Zwar gibt es dramatische Episoden, doch „Am Morgen einer anderen Zeit“ verzichtet auf typische Post-Doomsday-Action. Die ‚neue‘ Welt ist nicht radioaktiv verseucht, es gibt keine Mutanten oder genetisch fehlgeschaltete ‚Monster‘. Die ‚neue‘ USA hat sich acht Jahrzehnte nach der globalen Katastrophe stabilisiert.
Die Sprengung geistiger Fesseln ist nicht identisch mit dem Triumph über Angst und Fanatismus. Die Zukunft bleibt unsicher - eine Sicht, die erstaunlich modern wirkt. Man sollte dies nicht am Geschlecht des ‚Autors‘ festmachen. Leigh Brackett war eine Frau, aber fest verwurzelt in der Populärkultur ihrer Zeit und keineswegs ein feministischer Lichtstrahl in der Dunkelheit, sondern ein Profi. Schon ihre Drehbücher spiegeln die Spannbreite ihres Talents wider: „The Big Sleep“ (1946; dt. „Tote schlafen fest“), „Rio Bravo“ (1959; dt. „Rio Bravo“), „The Long Goodbye“ (1973; dt. „Der Tod kennt keine Wiederkehr“). Krimi, Fantasy, Science Fiction, Western: Brackett setzte in vielen Genres Maßstäbe. Für die „Star Wars“-Episode „The Empire Strikes Back“ (1980; dt. „Das Imperium schlägt zurück“) verfasste sie einen ersten Entwurf, bevor sie allzu früh einer schweren Krankheit erlag. Brackett war eine Autorin mit einem Gespür für soziale Bruchstellen, die sie spannend und nie aufdringlich in ihre Geschichten einfließen lassen konnte, aber nicht musste.
Fazit:
Für ihre Entstehungszeit ungewöhnlich ausgewogene „Post-Doomsday“-Geschichte, deren Autorin nicht simpel zwei Parteien gegenüberstellt, sondern die Frage nach der ‚richtigen‘ Entscheidung offenlässt. Der Tenor ist nachdenklich, die Handlung keineswegs langweilig: ein Klassiker, der inhaltlich gegen den zeitgenössischen Strom schwimmt.
Leigh Brackett, Moewig
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