Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

  • Klett-Cotta
  • Erschienen: September 2022
  • 8
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit
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Michael Drewniok
70°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJan 2023

Drei L(i)eben im Mahlstrom der Zeit

Joe Tournier gesellt sich 1898 zu jenen englischen Pechvögeln, die von einer Art Amnesie heimgesucht werden. Sie vergessen ihr früheres Leben bzw. ‚erinnern‘ sich an Erlebnisse, die nicht mit der Realität übereinstimmen, und fühlen sich fremd in ihrer Gegenwart. In der Regel bessert sich ihr Zustand nach einiger Zeit, doch Tournier gewinnt seine Erinnerung nicht zurück.

Er wird erkannt und kehrt in sein Leben als Leibeigener einer französischen Familie in London zurück. England ist seit der verlorenen Schlacht von Trafalgar (Oktober 1805) eine Kolonie Frankreichs. In Schottland halten sich noch einige Widerstandsnester, die sich gegen die endgültige Unterwerfung wehren. Ausgerechnet hierher führt Tournier sein Dienst. Als Ingenieur soll er das Licht des Leuchtturms auf der Hebriden-Insel Eilean Mor instand setzen. Dorthin will er ohnehin, denn eine vor 90 Jahren von dort an ihn gerichtete Postkarte verheißt endlich Klarheit über sein Schicksal.

Das Rätsel klärt sich tatsächlich: Vor der Insel existiert ein Portal, das Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbindet. Seit 1797 ist dies ein streng gehütetes Geheimnis, denn die Feinde England und Frankreich führen ihren Krieg zeitübergreifend: Aus der Vergangenheit kidnappen beide Mächte neugierige ‚Besucher‘ aus der Zukunft, die ihr Wissen über die Technik des späten 19. Jahrhunderts offenbaren müssen.

Auch Tournier wird in die Vergangenheit verschleppt. Dort begreift er, dass er eine Vorgeschichte hat, die jedoch in Auflösung geriet: Jede Veränderung in der Vergangenheit führt zu historischen Verwerfungen, die sich in der Gegenwart niederschlagen. Tournier fiel diesem Prozess zum Opfer - und der Wandel setzt sich fort …

Wenn man an der Uhr dreht …

Die Reise durch die Zeit und vor allem die sich daraus ergebenden Veränderungen stellen einen Plot-Grundpfeiler der Science Fiction dar. Zahllose Autoren haben sich Gedanken darüber gemacht, wie Ursache und Wirkung ihre Grundlage verlieren und mit spektakulären Folgen ins Rutschen kommen. Was wäre, wenn …? In diesem Fall ist es die Schlacht von Trafalgar, in der die britische Flotte unter Lord Nelson den französischen Invasoren eine verheerende Niederlage bescherte.

Natasha Pulley lässt die Franzosen siegen, denn sie können auf eine (Kriegs-) Technik zugreifen, die aus der Zukunft stammt. Sie waren es, die 1797 ein Schiff aufbrachten, das ahnungslos zwischen jenen beiden Steinsäulen hindurchfuhr, die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbinden. Über 90 Jahre führt dieser Sprung. Nach den Franzosen begriffen bald auch die Engländer die Möglichkeiten, die der Zugriff auf die Mittel der Zukunft bietet.

Die Zeit ist keine fixe Dimension. Wird sie manipuliert, nimmt sie einen neuen Lauf. In diesem Fall ist das britische Weltreich nie entstanden. Die Franzosen sind 1898 Herren der Inseln England und Irland - und das wollen sie bleiben, weshalb sie erbittert jene Widerständler bekämpfen, die ebenfalls auf zukünftige Technik setzen, um in der Vergangenheit das Steuer herumzureißen. Dieser ‚Zeitkrieg‘ ist noch nicht entschieden, doch er hat Auswirkungen: Schon geringfügige Anachronismen reichen aus, um die ‚Gegenwart‘ zu verändern - ein Prozess, der von den Betroffenen mehrheitlich nicht oder nur kurzfristig registriert wird, bevor ihre Erinnerung sich dem neuen Zeitstrom anpasst.

Den Boden unter dem Hirn verlieren

„Joe Tournier“ gehört zu denen, die zumindest ansatzweise wissen, dass etwas nicht stimmt, weil ihnen Erinnerungsfetzen blieben. Pulley sorgt hier für ein lange ungelöstes Rätsel: Dass Tournier schon einmal in der Vergangenheit war, wird rasch angedeutet. Die Rückkehr führt jedoch nicht zur Wiederkehr der Erinnerungen. Wieso dies überhaupt unmöglich ist, gehört zu den interessanten Aspekten dieses Romans. Pulley spielt die Problematik der manipulierten Zeit intensiv durch. Hier sind die Leserhirne gefragt, denn die Materie ist komplex - oder verflixt schwer nachvollziehbar, weil die Zeit einer Mechanik gehorcht, welche die Handlung mehrfach in neue Richtungen treibt und sich die Welt buchstäblich auflöst und neu festigt.

Wichtig ist ein roter Faden, der sich in dieser Verwirrung zwar verknäult, aber nicht reißt. Pulley setzt Joe Tournier als Konstante ein. Ungeachtet seiner Verwirrung bleibt er dem mäandrierenden Zeitstrom auf der Spur. Damit ist er nur scheinbar allein, denn zwei Menschen aus der Vergangenheit wissen sehr wohl, wer Tournier ist bzw. einst war. Missouri Kite und seine Halbschwester Agatha haben ihre Gründe, ihm diese Kenntnis vorzuenthalten. Allerdings sind sie sich in dieser Hinsicht ihrer Sache deutlich sicherer als die Leser.

„Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“ ist ein routiniert geschriebenes Buch, das nach einer nicht originellen, aber bewährten Idee clever entwickelt wird. Dem steht eine Gesamtstory gegenüber, die weder besonders spannend ist noch im Rahmen der Ereignisse einen Sinn ergibt. Tournier reist in die Vergangenheit, nimmt an diversen Seeschlachten teil, wird von den Franzosen gefangen, kann flüchten, versucht seine verlorene Vergangenheit zu rekonstruieren … Daraus ergeben sich durchaus packende Szenen, aber sie fügen sich wie gesagt nicht zu einer Story, die ‚mitnimmt‘.

Der Preis der chron(olog)ischen Unsicherheit

Diese Unzufriedenheit speist sich zusätzlich aus einer generischen ‚Unter-Handlung‘. „Der Leuchtturm …“ ist auch die Geschichte einer Liebe, deren Tragik sich freilich nur deshalb entfalten kann, weil diejenigen, die wissen, was eigentlich vorgeht, die Zähne nicht auseinanderbekommen. Nur wenige Worte würden genügen, um das ‚Rätsel‘, das über dem Geschehen liegt, weniger zu lüften als zu zerreißen. Als Kite endlich spricht, ist die Wahrheit in der Tat profan und sogar ernüchternd: Das war nun das große Geheimnis?

Weder mit Tournier noch mit Kite und Agatha wird man warm. Nachträglich erfährt man, was die Geschwister schweigen ließ. Plausibel wirkt es nicht, sondern höchstens melodramatisch. Darüber hinaus weiß Pulley sich nicht zu entscheiden, ob sie nun eine SF-Historie oder eine Lovestory mit phantastischen Elementen erzählen möchte. Sie widmet sowohl der Zeitreise-Problematik als auch der Rekonstruktion einer alternativen Vergangenheit viel Raum. Dabei verliert sie sich gern in Details, die in eine Sackgasse führen und die Handlung zum Stocken bringen.

So ist „Der Leuchtturm …“ weder Fleisch noch Fisch, sondern eine gut geschriebene Geschichte, die recht gleichgültig lässt. Es geht hoch her, dann folgt das seitenlange Auswalzen von Gefühlen, die in ihrer ‚Intensität‘ an eine jener modernen Streaming-Serien erinnern, in denen epische Zwischenmenschlichkeiten nach produktionsteuren Actionszenen günstig Sendezeit füllen müssen.

Fazit:

Die auf einem klassischen Zeitreise-Plot basierende Story wirkt trotz der inhaltlichen Vehemenz richtungslos; womöglich ist die ‚tragische‘ Liebesgeschichte, die zum Schlüssel der Ereignisse wird, ein wenig zu banal, um ihrer Funktion gerecht zu werden: immerhin gut recherchiert und geschrieben.

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

Natasha Pulley, Klett-Cotta

Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit

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