Die geflohene Geschichte
- Heyne
- Erschienen: Januar 2023
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Die Geister, die sie nie riefen
Seitensprung
Dass geschriebene Worte unglaublich kraftvoll sein können, dürfte bekannt sein. Gesetzestexte haben Gewicht. Religiöse Schriften, Weltliteratur, Dramen voller Komplexität, Schmerz und Tragweite. Dichtkunst und Poesie, für Generationen auf Papier gebannt und festgehalten. Schwere Realität, aber auch schlichte Unterhaltungsliteratur. Mal episch ausgeschmückt und ganze erdachte Welten umspannend, dann wieder unscheinbar klein und nur als Randnotiz im Meer der Geschichtenflut wahrgenommen. Doch egal wie viel Aufmerksamkeit eine Geschichte erregt, hinter ihr steckt immer jemand, der sie zurechtgesponnen und aufgeschrieben hat. Um ein Publikum zu erreichen, steht und fällt eine Story durch ihre Figuren. Das mag jeder kreative Schreibende anders handhaben, aber ein gut geschriebener Charakter macht eine Story greifbar, lebendig und lässt die Konsumenten mitfiebern. Im Idealfall so, als wäre die Figur jemand, den man selbst schon länger kennt. Eine Bindung zwischen Leser und Protagonist. Fast so, als wäre dieser real. Und was wäre, wenn ein solcher Charakter nun wirklich die Seiten eines Romans verlassen würde, um unserer Welt einen Besuch abzustatten?
In Kapitolo gehört dies zum Alltag. Das Thema Literatur ist an jeder Ecke präsent, beherbergt die Stadt doch zahlreiche Autorinnen und Autoren… und ihre Schöpfungen. Sie wird auch die Stadt der Figuren genannt, da seit Generationen fiktiven Charakteren aus Büchern der Übergang dorthin gelingt. Scheinbar willkürlich. So würde es in Kapitolo wohl niemanden überraschen, wenn sich plötzlich Superhelden durch die Stadt schwingen, Clowns in Abwasserkanälen herumtreiben oder ein Rotkäppchen im Laden an der Ecke ein Fläschchen Rotwein kauft. Nun mag man sich fragen was wäre, wenn plötzlich ein Jack the Ripper nachts die Straßen unsicher macht. Tja, dafür gibt es Gesetze… und die haben es in sich. Schlägt eine Figur über die Stränge, wird nicht nur sie mit der vollen Härte des Gesetzes konfrontiert, sondern auch die- oder derjenige, die oder der die Verantwortung für sie trägt. Besser gesagt, ihr Schöpfer. Von Geld- bis Arreststrafen ist da alles drin. Außerdem droht ein strenges Schreibverbot, was die kreativen Köpfe wohl am meisten schmerzen würde. Damit es in Kapitolo also trotz des bunten Treibens nicht drunter und drüber geht, gibt es von Seiten der Behörden die beiden Abteilungen VaF (Verbrechen an Figuren) und VdF (Verbrechen durch Figuren). Steht Letztere vor der Tür, hat man als Schriftsteller ein Problem…
Klopf, klopf…
So geht es Kate Kowalski, einer jungen Schriftstellerin, die bereits zahlreiche und ebenso erfolgreiche Romane veröffentlichen konnte. Unterhaltungsliteratur, nicht wildes oder gar bedrohliches. Hauptsächlich Fantasy. Bislang blieben ihre Schöpfungen auch dort, wohin sie sie geschrieben hat: in den Seiten ihrer Bücher. Geht man nach der VdF, hat sich dies aber nun geändert. Die steht nämlich plötzlich bei Kate auf der Matte und behauptet, dass eine ihrer Figuren in ein Verbrechen verwickelt ist. Kein Diebstahl oder ähnliches, nein… Mord!
Da jeder Schreibende mit seinen Fingerabdrücken registriert ist und diese unverwechselbaren Merkmale ebenfalls mit denen ihrer Schöpfungen identisch sind, besteht kein Zweifel. Welche von Kates Figuren allerdings straffällig geworden ist, ist noch nicht bekannt. Grund genug für die nun gebrandmarkte Schriftstellerin, ihren guten Ruf auf eigene Faust retten zu wollen. Schließlich steht nicht nur ihre Karriere auf dem Spiel. Ihre Suche führt Kate Kowalski bis tief in den Untergrund von Kapitolo… und konfrontiert sie erneut mit einem tragischen Schicksal in ihrer Jugend.
Von, mit und über
Kate Kowalski schreibt als Kate Kowalski über Kate Kowalski. Verwirrt? Keine Panik, denn das klärt sich schnell auf. Die Autorin ist gleichzeitig die Protagonistin und erzählt ihre Geschichte aus der Erzählperspektive. Nicht verwunderlich, denn so eine Story passiert einem nicht alle Tage. Der ganze Roman ist dazu noch so aufgemacht, dass man als Leser wirklich den Anschein bekommt, dass es sich um autobiografische Erlebnisse handelt. Inklusive einer Auflistung der bislang erschienenen Bücher von Kate Kowalski und einer – selbstverständlich fiktiven – Biografie. Wer sich wirklich hinter dem Pseudonym Kate Kowalski verbirgt, steht derweil auf einem anderen Zettel. Es gibt ein paar Schriftstellerinnen, die ich in den Rate-Topf werfen könnte, aber da soll sich das Publikum sein eigenes Bild machen.
„Die geflohene Geschichte“ lässt sich äußerst flüssig lesen und das kreative Setting wird leicht und ausreichend erklärt. Die Autorin hat sich viel Gedanken über ihre Geschichte gemacht, sodass aufkommende Fragen meist schnell beantwortet werden. Kapitolo wird so greifbar, lebendig und auf abstruse Weise logisch. Den einen oder anderen Spannungsbogen hätte ich mir etwas reißerischer gewünscht und leider schleichen sich auch hier und da Längen ein. Wenn Kate Kowalski nach knapp der Hälfte des Buches mit „Die Geschichte in der Geschichte“ aus ihrer bewegten Jugend erzählt, ist dies für die Story zwar enorm wichtig, mit knapp 100 Seiten jedoch viel zu lang ausgefallen. Dieser große Sprung reißt einen schon etwas raus und erschwert den Wiedereinstieg ins Hier und Jetzt.
Fazit:
Man kann Kate Kowalski – wer und wo sie auch immer ist – ihre Kreativität nicht absprechen. Die Prämisse von „Die geflohene Geschichte“ ist gut durchdacht, wenn auch dramaturgisch etwas holprig. Das kann man aber verzeihen, denn allein die Idee, fiktive Charaktere in die Realität springen zu lassen, habe ich so ausgeklügelt noch nicht gesehen. Ein urbaner Fantasy-Krimi mit gut geschriebenen Figuren. So real, dass sie auch bald schon vor Eurer Tür stehen könnten…
Kate Kowalski, Heyne
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