Kafka und der Tote am Seil

  • Penhaligon
  • Erschienen: November 2022
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Kafka und der Tote am Seil
Kafka und der Tote am Seil
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Marcel Scharrenbroich
75°1001

Phantastik-Couch Rezension vonMär 2023

Kafka, Künstler, Killer und Käfer

Der Trend geht zum Zweitberuf

So gerade noch mal dem Tod von der Schippe gesprungen. Am überraschtesten ist wohl Franz Kafka selbst über die Tatsache, dass die Tuberkulose ihn nicht dahingerafft hat, als er im Sanatorium quicklebendig die Augen aufschlägt. Noch gestern schien die hartnäckige Krankheit endgültig die Oberhand gewonnen zu haben, was seinen geschwächten Körper mit allem Irdischen abschließen ließ. Nun fühlt er sich von Sekunde zu Sekunde wohler…, wäre da nicht diese ungewöhnlich große Kakerlake in seinem Zimmer, die ihm ein Fieberthermometer dorthin jagen will, wo selbst die Sonne Klosterneuburgs im Jahr 1924 nicht hin scheint. Trotz des Verdachts, er hätte seine körperliche Gesundheit gegen die geistige getauscht, erkennt Kafka schnell, wen er da vor sich sieht. Gregor Samsa… seine eigene Schöpfung.

Den Schock noch nicht ganz überwunden, kündigt sich bald weiterer Besuch im kargen Krankenzimmer an. Ein Mann, der sich als Inspektor Beide vorstellt. Kein Polizist, sondern ein Mitarbeiter von der neu gegründeten IKPO, die Internationale kriminalpolizeiliche Organisation. Nichts, wovon Kafka schon einmal gehört hätte, aber sprechendes Ungeziefer ist für den überforderten Versicherungsangestellten ja ebenfalls neu, also was soll’s. Beide erzählt Kafka von einer Mordserie, die sich in und um Wien herum ereignet. Bislang dreiundzwanzig Opfer gibt es zu beklagen. Allesamt auf die gleiche Weise erdrosselt. Franz befürchtet zunächst, dass man ihn für den Hauptverdächtigen der Serienmorde hält, welche er in seinem desaströsen Zustand ja unmöglich hätte begehen können, aber weit gefehlt. Beide ist an Kafkas Fähigkeiten als Ermittler interessiert. Aus Gründen, die sich dem frisch Genesenen noch nicht erschließen. Immerhin hat man schon einen vermeintlichen Täter im Visier: Hans Henker, den sogenannten Hängekünstler.

Henker tritt in Wien mit einer spektakulären Show im Theater auf. Abend für Abend nimmt er sich vor ausverkauftem Haus das Leben. Er erhängt sich… allerdings auf sehr mysteriöse Weise. Zuerst bittet er jemand Freiwilligen aus dem Publikum auf die Bühne, der oder die sich dann von der Stabilität des verwendeten Stricks überzeugen darf. Dann legt er sich mit musikalischer Untermalung das Seil um den Hals, welches sich dann wie von Zauberhand um den Balken des Galgens wickelt. Zum großen Finale baumelt Henker leblos hin und her, bevor sich der Vorhang schließt und das Spektakel mit staunenden und entsetzten Gesichtern endet. Zumindest bis zum nächsten Abend, wenn der Hängekünstler wohlauf zur nächsten Hinrichtung einlädt.

Nun soll es an Franz liegen, den Hauptverdächtigen zu überführen, der angeblich seine Opfer auf dieselbe Art ermordet, wie er sich selbst Abend für Abend richtet. Da man eigentlich kein besseres Alibi haben könnte, als vor hunderten Menschen auf einer Bühne zu stehen, müssen Kafka und sein neuer Freund Gregor erfinderisch sein. Stellen sich außerdem noch die Fragen, warum niemand sonst Gregor sehen kann, und warum Inspektor Beide plötzlich im Körper einer Frau vor ihm steht. Großer Gott, Franz… bist du etwa doch verrückt geworden?

Passiert das gerade wirklich?

Nun, diese Frage stellt sich nicht nur Franz Kafka, der quasi vom Totenbett in einen mörderischen Fiebertraum geworfen wird, sondern auch der- oder diejenige, der oder die sich auf den wahrlich kafkaesken Trip einlässt. Ermittler, die plötzlich aus dem Nichts auftauchen und im Bruchteil einer Sekunde ihr Geschlecht wechseln, unerklärliche Morde ohne scheinbaren Zusammenhang, die logisch gedacht nur einen Täter zulassen würden, hätte dieser nicht das perfekte Alibi, und ein mannsgroßes Insekt namens Gregor… da kann einem schon mal schwindelig werden. Dass trotz dieser wilden Zutaten ein stimmiges Gesamtkonstrukt herausgekommen ist, kann man dem Drehbuchautor und Schreiber erfolgreicher Theaterstücke Jon Steinhagen verdanken.

„Kafka und der Tote am Seil“ – im Original „The Hanging Artist“ – ist sein Debut-Roman und wurde nach drei Jahren Wartezeit Ende 2022 von PENHALIGON (und sehr gut übersetzt von Simon Weinert) endlich auch hierzulande veröffentlicht. Als großer Freund schräger Phantastik war ich schon arg gespannt, wie der Autor es schafft, historische Fakten mit einer übernatürlichen Kriminalgeschichte zu kreuzen, ohne den zugkräftigen Protagonisten – in diesem Falle den 1924 verstorbenen Schriftsteller Franz Kafka, dessen Werke immerhin zur Weltliteratur zählen – zu verwässern und lediglich als Motor einzusetzen. Um es kurz zu machen: Steinhagen hat es ziemlich gut geschafft, dass der reale Kafka innerhalb dieses Mystery-Krimis greifbar bleibt. Seine Werke sind stets präsent, wobei das Hauptaugenmerk natürlich auf den Erzählungen „Ein Hungerkünstler“ (1922) und „Die Verwandlung“ (1912) liegt. Recht unerwartet kommt auch der Humor nicht zu kurz. Das zeigt sich besonders in den Wortgefechten zwischen Kafka und Kakerlake Gregor Samsa, frisch entsprungen aus seiner eigenen Erzählung. Ebenfalls kommen Personen aus Franz Kafkas realem Umfeld vor. So wird beispielsweise seine letzte Lebensgefährtin Dora Diamant erwähnt, während Kafkas guter Freund, der jüdische Schauspieler Jizchak Löwy, eine nicht unwichtige Rolle bekleidet.

Dass Kafka selbst diese Darstellung gefallen hätte, darf allerdings angezweifelt werden. Schon zu Lebzeiten nahm er nämlich Abstand von einigen seiner Texte – von unvollendeten Arbeiten ganz zu schweigen – und bat seinen Freund und Nachlassverwalter Max Brod, selbst Schriftsteller und Kritiker, dafür zu sorgen, dass lediglich sechs seiner Arbeiten weiterhin gedrückt werden dürfen. Zeit seines Lebens von Selbstzweifeln geplagt, wäre es Kafka am liebsten gewesen, wenn all seine Werke in Vergessenheit geraten wären. Recht offensichtlich hielt Brod sich nicht an diesen Wunsch, weshalb Franz Kafka auch hundert Jahre nach seinem Ableben noch fleißig gelesen, adaptiert und interpretiert wird.

Realität trifft Fiktion

Steinhagen betritt damit, dass er eine historische Persönlichkeit zum Akteur einer mit ihr verbundenen fiktiven Geschichte macht, aber kein Neuland. Meta-Fiction ist hier das Stichwort und ist so ziemlich das Gegenteil von einer historisch akkuraten Biographie. Zuletzt wanderten schon Tom und Stephan Orgel, die gemeinsam und dem Namen T. S. Orgel als Autoren-Duo schreiben, auf diesen Pfaden. 2022 ließen sie niemanden geringeren als Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832) für ihren Roman „Die Schattensammlerin - Dichter und Dämonen“ (HEYNE) wieder auferstehen. Auch das funktionierte, obwohl der gealterte Meister der Dichtung vornehmlich im Hintergrund agierte und eine unerfahrene Museumsangestellte in seinem Auftrag ermitteln ließ.

Im Film gibt es sogar noch mehr nennenswerte Beispiele. 2012 und 2022 nahm man sich mit „The Raven - Prophet des Teufels“ und „Der denkwürdige Fall des Mr. Poe“ einem Großmeister der Schauerliteratur an, nämlich Edgar Allan Poe (1809 – 1849), verkörpert von John Cusack bzw. Ex-Batman Christian Bale. Im splattrigen B-Movie „Necronomicon“ (1993) lernen wir hingegen den umstrittenen H. P. Lovecraft (1890 – 1937) kennen, der – gespielt von „Re-Animator“ Jeffrey Combs – im besagten Büchlein blättert und drei Storys für den Anthologie-Horror herauskramt. Noch weiter zurück liegt der Film „Flucht in die Zukunft“ (1979; OT: „Time after Time“), in dem H. G. Wells 1893 selbst in die Zeitmaschine steigt, um im San Francisco der Gegenwart Jack the Ripper am Rippen zu hindern. In den Hauptrollen Malcolm McDowell (Ja, das Arschloch, das Captain Kirk gekillt hat!) und David Warner als kaltblütiger Serienmörder, der mich in jungen Jahren einen stets verstörten Blick auf Günter Netzer werfen ließ. Der Film basiert auf dem Roman „Flucht ins Heute“ von Karl Alexander, welcher in Deutschland erst 1983 veröffentlicht wurde und (bislang ohne deutsche Übersetzung) 2009 mit „Jaclyn the Ripper“ fortgesetzt wurde.

Fazit:

„Kafka und der Tote am Seil“ ist eine bizarr-skurrile Fiktion mit hohem Unterhaltungsfaktor. Jon Steinhagen hat seine Hausaufgaben gemacht und streut viele Verweise bezüglich Franz Kafka und dessen Werke ein. Dazu ein spannender Whodunit-Plot und humorvolle Dialoge. Wer einen schrägen Krimi mit historischem Bezug sucht, ist mit diesem flüssig zu lesenden Debüt gut beraten.

Kafka und der Tote am Seil

Jon Steinhagen, Penhaligon

Kafka und der Tote am Seil

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