Sehnsucht nach Liebe - und Menschenfleisch
Die Zombies haben diese Welt nie überrannt, denn nur wenige Pechvögel erwachen nach ihrem Tod zu einem neuen ‚Leben‘. Dieses Dasein ist trostlos, denn Zombies besitzen weder Grund- noch Bürgerrechte. Der Staat duldet sie widerwillig und lässt sie von Tierschutzorganisationen ‚betreuen‘, Familienmitglieder und Freunde wenden sich von den oft verunstalteten Untoten ab. Die Zombies müssen sich ruhig und möglichst außer Sicht- (und Riech-) Weite der Lebenden - der „Atmer“ - halten.
Andrew Warner gehört nach einem Autounfall seit vier Monaten zu den Untoten. Er ist wieder bei seinen Eltern eingezogen, die ihm einen Raum im Keller zugewiesen haben. Der Vater verabscheut ihn, seine Tochter darf Andy nicht mehr sehen. Der einzige Lichtblick sind die Treffen der Zombie-Selbsthilfegruppe „Anonyme Untote“. Hier treffen sich die lebenden Leichen und schütten einander ihre Herzen - falls noch vorhanden - aus.
Gründe zur Klage gibt es mehr als genug. Die Untoten stehen ganz unten in der sozialen Hierarchie. Da sich niemand für sie einsetzt, kühlen Schläger gern ihr Mütchen an den wehrlosen Untoten. Studenten reißen sie als ‚Mutprobe‘ in Stücke. Begehren die Zombies auf, werden sie auf behördliche Anordnung buchstäblich entsorgt.
Andy hat genug. Er findet Freunde, die sich ihm anschließen, als er sich demonstrativ nicht mehr an die Regeln hält. Die Untoten wollen ihre Rechte und vor allem ihre Menschenwürde zurück. Eher zufällig steht Andy an der Spitze dieser Bewegung. Die Medien werden aufmerksam. An Andys Seite ist die schöne Selbstmörderin Rita, die dazu beiträgt, dass er sich wieder wie ein Mensch - und Mann - zu fühlen beginnt. Außerdem verteilt Kumpel Ray großzügig sein leckeres ‚Wildfleisch‘, das den Zombies buchstäblich Mumm in die Knochen und Grips in die Schädel zaubert …
Ganz unten, wo die Untoten hausen
Der Leser muss nicht lange rätseln, woraus Rays Spezialität besteht. Als dieses Geheimnis gelüftet wird, stehen Andy und seiner Zombie-Protestbewegung richtig schwere Zeiten bevor. Andererseits ist die Grenze bereits überschritten: Auch ein Zombie geht nur solange zum Brunnen, bis er bricht! Alles darf sich der Mensch selbst nach dem Tod nicht gefallen lassen.
Bis die Revolte startet, vergeht viel Zeit. Langeweile kommt dennoch nicht auf, denn Autor Browne gelingt die Vermittlung eines Alltags, in dem Zombies normale Zeitgenossen sind. „Atmer“ und Zombies müssen sich arrangieren - eine Balance, die ständig aus dem Lot gerät, weil es zwischen den Parteien keine Gemeinsamkeiten gibt und geben kann: „Die Toten haben bei den Lebenden nichts verloren.“ (S. 250)
Die Argumente der „Atmer“ kennen wir aus unzähligen Horrorfilmen: Dem Tod begegnen wir ungern von Angesicht zu Angesicht. Er ist hässlich, da helfen weder Formaldehyd noch Kölnisch Wasser, wie die Untoten wissen. Der Gestank begleitet sie, die durch ein oft gewaltreiches Ende entstandenen Verletzungen heilen nicht, ihre Körper zerfallen. Schlimmstenfalls werden Zombies zu „Schmelzern“, was punktgenau ausdrückt, wie ihnen geschieht. Ebenfalls für Unruhe sorgt das Problem der untoten Ernährung. Die Zombies essen und trinken die Nahrung der „Atmer“. Die bleiben jedoch misstrauisch, weil sie von George A. Romero u. a. ‚Fachleuten‘ aus Hollywood darüber informiert wurden, dass Zombies Kannibalen sind. Dabei verstehen sich diese nicht als „Untote“, sondern weiterhin als Menschen. Schließlich haben sie vom Tod keine Ahnung, da sie ihn bewusst nie erlebten, sondern irgendwann wieder ‚erwachten‘.
Das Recht auf Veränderung
Diese Existenz ist ein böser Witz, denn in einer von „Atmern“ dominierten Welt steht der Zombie auf einer Stufe mit Haustieren. Niemand will sich mit ihnen abgeben, weshalb der Tierschutz für sie zuständig ist. Untote, die gegen eine der unzähligen Einschränkungen aufbegehren, werden eingefangen und in Käfige gesperrt. Dort können ihre Lieben sie auslösen. Ansonsten werden sie eliminiert.
Unterdrückung und Gewalt erzeugen Widerstand und Aufruhr. Den Untoten ist ihr Verstand geblieben. Er funktioniert träge, was einen Grund hat, den die „Atmer“ den Untoten sorgfältig verschweigen: Zwar können Zombies normale Nahrung zu sich nehmen, doch eigentlich verlangt ihr Körper und vor allem ihr Hirn ganz klassisch nach Menschenfleisch. Kommen sie daran, werden sie stark, schlau - und widerspenstig.
Als Andy und seinen Gefährten dies in der zweiten Hälfte dieser Geschichte bewusst wird, verwandelt sich „Anonyme Untote“ in eine „Coming-of-Age“-Geschichte der besonderen Art. Vor allem Andy, den Autor Browne zum Repräsentanten seiner untoten Figuren ernennt, entwickelt sich vom namenlosen, stummen, kaum bewegungsfähigen Opfer zum Anführer einer Rebellenschar, die sich ihres Dilemmas schnell bewusst ist: Selbst wenn sie den „Atmern“ die vorenthaltenen Rechte abtrotzen können, werden diese nie dazu bereit sein ihre untoten Mitbürger mit Menschenfleisch zu versorgen! Hier bahnt sich ein Konflikt an, der schließlich doch in den typischen Krieg zwischen Zombies und Lebenden mündet.
Alte Sünden trotz Perspektivenwechsel
S. G. Browne stellt sich nicht als erster die Frage, was wäre, wenn die im Horror-Genre normalerweise geistlosen Zombies ihren Verstand behielten. Grusel-Großmeister George R. Romero ließ in „Day of the Dead“ (1985; dt. „Zombie 2“) und „Land of the Dead“ (2005) allmählich geistig ‚erwachende‘ Untote auftreten. Diese Kombination schürt die Furcht vor einem wandelnden Tod, der seine Gier auf Menschenfleisch planvoll befriedigen kann.
Andy und seine Gefährten verdrängen dieses Problem. Ursprünglich wollten sie ihren buchstäblich toten Existenzen nur einen neuen Sinn geben. Dass sie menschlich geblieben sind, beweist ihr Handeln, nachdem sie auf den Geschmack gekommen sind: Die intelligent gewordenen Zombies werden vorsichtig und hinterhältig. Während sie offiziell die dank Andy erworbene Medienpräsenz nutzen, um für ihre Sache zu werben, führen sie die „Atmer“ gleichzeitig hinters Licht, indem sie immer dreister auf die Jagd nach Lebendproviant gehen.
Das Menschenfleisch wird zur Droge, auf die kein Zombie mehr verzichten will. Die Ironie liegt in der Tatsache, dass Romero und Hollywood richtig lagen: Zombies sind Kannibalen. Die Zeit des geistigen Erwachens ist auch der Moment der Erkenntnis, dass nicht nur der Mensch, sondern auch der Zombie nicht gegen seine Natur ankommt. Das Finale schildert den Ausbruch jenes Krieges, der am Anfang der meisten anderen Zombie-Geschichten steht.
Abruptes Ende mit Schrecken
„Anonyme Untote“ weist Strukturschwächen auf. Lange beschränkt sich Autor Browne darauf, Andy Warner eine Bestandsaufnahme seiner Situation aufnehmen zu lassen. Sie stellt den interessanteren Teil der Geschichte dar, weil Browne viele interessante und witzige Ideen einbringt, um die seltsame Parallelwelt von „Atmern“ und Untoten zu beschreiben. In der zweiten Hälfte meint Browne Tempo und Action ins Geschehen bringen zu müssen. Die geistige Evolution der Zombies verläuft sehr US-amerikanisch, d. h. unter Einsatz beträchtlicher Gewalt, wobei sich beide Seiten nichts schuldig bleiben. Die Handlung läuft in bekannten Bahnen. Brownes Medienkritik ist wenig originell.
Je näher wir dem Finale kommen, desto heftiger überschlagen sich die Ereignisse. Browne scheint seine Geschichte vor allem abschließen zu wollen. Andys Rachefeldzug, der den Krieg mit den „Atmern“ einläutet, ist schlecht ins Logik-Gefüge des Gesamtgeschehens integriert. Das Ende ist offen; nach eigener Auskunft plant Browne keine Fortsetzung.
In Deutschland geriet dieses Buch in einen ungünstigen Seitenarm des Vermarktungsstroms. ‚Erfolgreicher‘ Horror bedeutet hierzulande entweder Metzel-Monster oder „Chick-Lit“-Grusel. „Anonyme Untote“ ist weder das eine noch das andere, weshalb es die Werbestrategen einfach beiden Kategorien zuschlugen: „Morbide, makaber, mordsmäßig lustig und nichts für schwache Mägen - die Zombiesatire zum „(Un)totlachen!“
Fazit:
Keine „Zombie-Liebesgeschichte“, wie uns das Cover weismachen will, sondern eine manchmal schwarzhumorige, zunehmend horrorharte und wohl auch als Parabel gedachte Story.
S. G. Browne, Heyne
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