Der Schrecken der Medusa

  • Ullstein
  • Erschienen: Januar 1986
  • 0
Der Schrecken der Medusa
Der Schrecken der Medusa
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonNov 2021

Der Mann, der Katastrophen erschafft

In seiner Wohnung wurde Schriftsteller John Morlar mit einer Metallstatue zusammengeschlagen. Sein Schädel ist völlig zertrümmert, die Polizei hält ihn für tot, als sie an den Tatort gerufen wird. Doch Morlar klammert sich mit unglaublicher Intensität an sein Leben.

Inspektor Cherry übernimmt den Fall, der ihn rasch fasziniert, dann zunehmend erschreckt. Die Ermittlung folgt dem üblichen Muster. Da vor Ort keine Indizien gefunden werden, sucht man nach Feinden, die es auf Morlar abgesehen haben könnten. Deren Zahl beeindruckt, denn Morlar ist ein zynischer, verbitterter Mann, der von der Existenz des Bösen in einer dekadenten, manipulierten, gleichgültigen Welt überzeugt ist. Die von Cherry befragten Zeugen zeichnen das Bild eines Sonderlings, der gnadenlos jene attackiert, die er verachtet, was eigentlich sämtliche Mitmenschen einschließt.

In seinen Tagebüchern behauptet Morlar über eine Kraft zu verfügen, die es ihm ermöglicht, Menschenhirne quasi ‚fernzusteuern‘. Nachdem er diese Macht lange eher zufällig einsetzte, begann er sie mehr und mehr für einen Terror zu instrumentalisieren, mit dem er die verkommene Welt ‚strafen‘ will. Inzwischen ist Morlar angeblich auch der Telekinese fähig; er kann Autos, U-Boote oder Flugzeuge vom Kurs abbringen und so vernichten.

Zunehmend entsetzt erfasst Cherry, dass Morlar keineswegs phantasiert. Obwohl der Autor im Koma liegt, arbeitet sein Hirn fieberhaft an der Umsetzung seiner nächsten Gräueltat, die an Dimension seine früheren Taten weit in den Schatten stellen soll …

Auf dem Weg zur (schrecklichen) Erkenntnis

Lang ist es her, dass Romane kein Ziegelsteinformat erreichten, weil sie entweder betont seitenstark sind oder im Druck ‚aufgeblasen‘ werden, um Wucht und Wertigkeit auszustrahlen. „Der Schrecken der Medusa“ zählt in der deutschen Übersetzung knapp 130 Seiten. Was uns der Autor erzählen will, handelt er in diesem Rahmen ab, obwohl u. a. zwei Flugzeuge und eine Mondlandefähre abstürzen, ein U-Boot untergeht und eine Kathedrale einstürzt: Peter van Greenaway walzt nicht aus, was den Kern dieser Geschichte nur untermauert, aber nicht darstellt. Die genannten Katastrophen werden deshalb nur in wenigen Sätzen angedeutet.

Im Mittelpunkt steht die Begegnung mit einem Mann, der in sich eine quasi göttliche - oder teuflische - Kraft entdeckt, Sie ermöglicht es, der Menschheit jenen Denkzettel zu verpassen, den sie nach John Morlars Ansicht verdient. Er könnte seine Macht wahrscheinlich auch zum Guten einsetzen, aber daran denkt er keinen Augenblick: Mit John Morlar hat Autor Peter van Greenaway einen denkwürdigen Charakter geschaffen, den man gleichzeitig fürchtet, verabscheut und bedauert.

Seine in Rückblenden erzählte Lebensgeschichte ist der Leidensweg eines ungemein intelligenten Menschen, dessen Potenzial weder die Eltern, noch die Lehrer oder spätere Arbeitgeber erkennen. Morlar tritt der Welt mit einem unbedingten Akzeptanzanspruch entgegen, der nicht begriffen oder vorsätzlich ignoriert wird. Der anfänglich durchaus empfindsame Junge entwickelt sich zu einem misstrauischen Mann. Er registriert ausschließlich das Üble, das ihm widerfährt und das er schließlich als menschliches Movens deutet: Das Böse ist weder göttlich noch teuflisch, sondern ein Produkt des Menschenhirns.

Das muss Konsequenzen haben!

Morlar benötigt Jahrzehnte, um seine Macht zu begreifen sowie zu meistern. Er mutiert zu einem bitteren, mitleidlosen, arroganten Zeitgenossen, was der verhassten Menschheit zum Verhängnis wird, als er zu dem Schluss kommt, dass ihm mit der Kraft ein Auftrag erteilt wurde: Strafe die Welt, die aus den Augen verloren hat, was wirklich zählt im Leben; Werte, die natürlich Morlar definiert.

Seine Argumentation ist partiell durchaus schlüssig, wie Inspektor Cherry zugeben muss, der Morlars Tagebücher liest. Cherry ist ein Spiegelbild Morlars, ohne dessen Rache- oder Messias-Komplex zu übernehmen; auch er stellt kritische Fragen. Van Greenaway greift hier diverse Probleme auf, die in den 1970er Jahren allmählich als solche erkannt wurden: Die Politik setzt immer unverhohlener auf Geheimdienste, die außerhalb geschriebener Gesetze agieren. Wirtschaftlich übernehmen globale Konzerne ihre spezielle Form der Weltherrschaft. Selbst die (anglikanische) Kirche mischt kräftig mit, um in moderner Zeit alte Machtansprüche umzusetzen.

Morlar setzt dieser „Dekadenz“ blanken Terror entgegen. Sein Minderwertigkeitskomplex, sein Selbsthass, seine Hilflosigkeit schlagen in Mordlust um: Wer sich ihm in den Weg stellt, wird ohne Rücksicht auf ‚Kollateralschäden‘ ausgelöscht. Als es ihm nicht mehr reicht, sich anonym in seinem Glanz zu aalen, nimmt Morlar Kontakt zu einem Psychiater auf: Er will keine Hilfe, sondern sucht ein Publikum. Die Reaktion gibt ihm einerseits Recht, während er andererseits auf dem Totenbett landet.

Es ist noch nicht bzw. nie vorbei

Dort klammert sich Morlar freilich an das verachtete Leben. Inzwischen hat er buchstäblich Blut geleckt. Seine Attacken nehmen an Gewalt und Umfang stetig zu. Der Tod soll ihm die Abrechnung nicht verderben, weshalb er seine Kraft einsetzt, um über den zerstörten Körper zu triumphieren.

Das Ende ist offen. Morlar setzt seinen Feldzug fort, wie van Greenaway andeutet, der dafür den Propheten Malachias zitiert, der scheinbar acht Jahrhunderte früher angekündigt hat, was Morlar in der Gegenwart auslöst. Hier kehrt der Autor zu der schon zuvor mehrfach anklingenden Frage zurück, ob Morlar von einem Dämon besessen ist. Oder ist er ‚nur‘ ein Mutant? Fest steht, dass seine Kraft echt ist und keine kollektive Einbildung darstellt.

Morlars grenzenlose Misanthropie äußert sich in rhetorisch polierten Ausbrüchen eines Hasses, der sogar verständlich wird. Ein Mann verzweifelt an der Welt, deren Falschheit er zu erkennen glaubt. Ob er damit richtig liegt, ist nicht Gegenstand dieser Geschichte. Das Schicksal befördert Morlar zum ‚global player‘, und er spielt seine Karten aus. Ursache und Wirkung werden wie erwähnt auf nicht einmal 130 Seiten dargestellt - und mehr braucht es auch nicht.

Anmerkung: In der Rückschau beeindruckt das Cover der englischen Originalausgabe von 1973: Es zeigt ein Verkehrsflugzeug, das sich in ein Hochhaus bohrt. Seit 2001 dürfte dieses Motiv tabu sein.

„Der Schrecken der Medusa“ im Kino

Mitte der 1970er Jahre interessierte sich der britische Regisseur Jack Gould (1930-2015) - der auch als Produzent tätig war - für „The Medusa Touch“. Ihn reizte die Mischung aus Philosophie und Mystery, außerdem passte die Geschichte in eine Kino-Ära, die von sogenannten „Katastrophen-Filmen“ geprägt war: Erdbeben,  Meteore, Monsterwellen, Feuersbrünste etc. sorgten für Verheerungen, die 1978 zwar noch analog, aber von professionellen Trick-Experten trotzdem zunehmend ‚lebensechter‘ = mit einschlägigen Schauwerten in Szene gesetzt werden konnten.

Gern hätte Gould die Hauptrolle Nicol Williamson (1936-2011) übertragen, den er bereits in früheren Filmen besetzt hatte. Doch dessen Name lockte nicht genug Investoren an, sodass man auf Richard Burton (1925-1984) zukam. Dieser hatte zwischen zwei Projekten ein wenig Zeit und war weitgehend nüchtern. In nur drei Wochen drehte er seine Szenen ab - und prägte einen Morlar, der im Gedächtnis bleibt!

Ihm jederzeit gewachsen ist der italienisch-französische Schauspieler Lino Ventura (1919-1987) in einem seiner seltenen Ausflüge ins anglo-amerikanische Kino. Als Polizist aus Frankreich, der im Rahmen eines Austauschprogramms in England ermittelt, ersetzte er Inspektor Cherry, der im Film nicht vorkommt. Obwohl Burton und Ventura kaum eine Szene miteinander teilen, liefern sie sich ein Duell auf hohem darstellerischem Niveau.

Dr. Zonfeld ist im Film eine Frau. Dass Lee Remick (1935-1991) die Rolle übernahm, hatte Venturas Interesse geweckt, der wiederum Remicks Verehrung genoss. Um dieses Trio herum gruppierte Gould eine Gruppe von Schauspielern (Gordon Jackson, Harry Andrews, Jeremy Brett etc.), die quasi ein „Who’s Who?“ des zeitgenössischen britischen Kinos repräsentierten.

Obwohl sich das Geschehen lange auf Rückblenden beschränkt, sorgt Gould für einen (aus heutiger Sicht freilich gemächlichen) Spannungsaufbau, der in ein furioses Finale -  den von Morlar hervorgerufenen Einsturz der Kathedrale von St. Paul - mündet. Aus einem Krimi wird ein SF-Thriller und schließlich ein Katastrophen-Spektakel: Was in dieser Mischung übel hätte missglücken können, wurde zu einem ungewöhnlichen, spannenden, weiterhin unterhaltsamen Filmklassiker.

Fazit:

In Rückblenden wird das Leben eines Mannes aufgerollt, der über die Macht verfügt, Katastrophen auszulösen. Was nach Statik klingt, funktioniert auch aufgrund der Kürze der Gesamtgeschichte, die konsequent aufgelöst wird. Obwohl der (in der Handlung weitgehend vorlagengetreue) Film den Roman an Unterhaltungswert übertrifft, fesselt die Vorlage dank (oder trotz?) ihres philosophischen Unterbaus und des nüchternen bzw. dokumentarischen Stils.

Der Schrecken der Medusa

Peter van Greenaway, Ullstein

Der Schrecken der Medusa

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