Nemesis - Die Zeit vor Mitternacht
- Ullstein
- Erschienen: Januar 2004
- 4
Der Horror auf Burg Crailsfelden beginnt
Bei ";Nemesis"; handelt es sich eigentlich um eine Göttin des Griechischen Olymp. Ihre Aufgabe war es, Vergeltung zu üben.
Der Inhalt laut Cover:
";Der exzentrische Mulimillionär von Thum lädt ein: drei junge Männer und drei junge Frauen. Zwei von ihnen sollen sein Millionenerbe antreten. Als sie sich kurz vor Mitternacht in der Burg Crailsfelden einfinden, ahnen sie nicht, dass ihnen die längste Nacht ihres Lebens bevorsteht – eine Nacht, die nur einer von ihnen überleben kann…";
Auffällig ist, dass diese Geschichte in der Ich-Form geschrieben ist. Man erlebt alles aus der Sicht des Protagonisten Frank Gorresberg. Und ziemlich schnell wird einem auffallen, dass der Inhalt des Covers nur bedingt etwas mit dem tatsächlichen Inhalt des Buches zu tun hat. Denn tatsächlich werden die jungen Leute zwar von einem gewissen Gero von Thun auf Burg Crailsfelden begrüßt (selbst der Name wurde auf dem Cover falsch geschrieben), doch hat dieser sie gar nicht eingeladen. Die Einladung ging von einer Anwaltskanzlei aus, die die Herrschaften in die Gaststätte ";Taube"; gebeten hatte, wo sie zunächst durch den Späthippie Carl (Frank bezeichnet ihn immer nur als ";Zerberus";, den mehrköpfigen Wachhund der griechischen Mythologie), den Wirt, begrüßt werden. Nachdem sich die jungen Leute nacheinander vorgestellt haben, sollen sie in diesem Wirtshaus eigentlich von dem Anwalt Flemming empfangen werden, der ihnen bislang nämlich noch nichts über den Grund ihrer Anreise verraten hatte. Doch kaum begegnen sie sich, fällt er plötzlich tot um (nur Frank hat eine Vision, in der er gesehen haben will, wie Flemming der Kopf explodierte und alles voll Blut spritzte).
Gero von Thun lernen sie später auf der Burg kennen, in der sie eine Nacht verbringen sollen. Dabei erfahren sie, dass er der Gehilfe der Anwaltskanzlei sei. Und sie erfahren, dass der Multimillionär Sänger verfügt haben soll, dass nur ein Paar von seinen potenziellen Erben das Erbe tatsächlich wird antreten können. Ein Erbe, das im mindestens siebenstelligen Bereich liegen soll. Da sich die sechs jungen Leute zuvor noch nie begegnet waren, stellt dies natürlich eine gewisse Problematik dar.
Erinnert an Stephen King
Wolfgang Hohlbein ist es gelungen, gleich zu Beginn eine unwirkliche und fast schon bizarr wirkende Atmosphäre zu schaffen. Man erlebt alles durch die Augen des Protagonisten Frank. Man liest, was er sieht, denkt und fühlt. Man kommt sich dabei nicht wie ein Beobachter der Szene vor, wie dies üblicherweise der Fall ist, sondern man wird indirekt in die Geschehnisse implementiert. So kommen einem die Geschehnisse doch ganz anders vor, da die Emotionen gänzlich anders dargestellt werden können. Vor allem dahin gehend, dass man wirklich nur erfährt, was Frank denkt. Man kann nur aufgrund seiner Mutmaßungen erahnen, was vielleicht in den Köpfen der anderen vorgehen mag. Und dies ist ein Umstand, der die Geschichte noch spannender macht.
Wie auch bereits in ";Dunkel"; geschehen, kann Wolfgang Hohlbein offensichtlich nicht ganz auf eine gewisse Erotik verzichten. So schildert er eindrucksvoll die Gefühlswelt Franks, als dieser bemerkt, dass die junge Judith beispielsweise keinen BH trägt. Man spürt förmlich, wie er hin- und hergerissen ist. Einerseits ist er kein Kostverächter… andererseits steht ihm der Sinn nicht unbedingt nach einem amourösen Abenteuer. Doch die Bedingungen des Testaments werden diese Einstellung garantiert noch auf die eine oder andere Weise beeinträchtigen.
Interessant ist, dass gleich zu Beginn der erste Tote auftaucht. Nicht, dass dies unbedingt ungewöhnlich wäre, doch fehlt den jungen Leuten damit zunächst der Grund ihrer Reise, zum anderen überschattet dieser Todesfall die generelle Stimmung. Waren sie sich einander anfänglich nur fremd und mehr oder weniger sympathisch oder unsympathisch, so müssen sie jetzt mit dem Wissen leben, Zeugen eines Todesfalls geworden zu sein.
Beim Tod des Anwalts ist mir aufgefallen, dass sich Wolfgang Hohlbein offensichtlich ein wenig an Stephen King orientiert haben muss. Die Art und Weise, wie Frank der Tod des Anwalts vorgekommen ist (mit dem explodierenden Kopf) erinnert mich doch ein bisschen an die Geschehnisse aus Stephen Kings ";Es";. Auch hier sehen die betroffenen Personen Dinge, die nicht real sind… die außer ihnen niemand sehen kann. Und bei Frank gehen diese Visionen soweit, dass er sie sogar körperlich spüren kann. Noch Stunden nach dem Tod des Anwalts hat er das Gefühl, ein Stück Schädelsplitter in seiner Hand stecken zu haben und muss sich an dieser Stelle immer wieder kratzen.
Eine bunt gemischte Gruppe
Durch diese Geschehnisse wird die gesamte Geschichte gleich schon ziemlich unheimlich aufgebaut. Man weiß nicht, was real und was Phantasie der Charaktere ist. Und diese sind ohnehin unterschiedlich, wie sie unterschiedlicher kaum sein können.
- FRANK ist der Protagonist dieses Abenteuers. Durch ihn erlebt man als Leser alles mit, was um ihn herum geschieht. Man teilt sein Wissen und seine Emotionen. Frank war einige Zeit in den USA und ist nur wegen der Einladung der Anwaltskanzlei nach Deutschland gekommen. So beginnt die Geschichte mit seinem Erwachen in einem Hotel. Man erfährt, dass er verschlafen und dadurch seinen Flug verpasst hat. Man liest, wie er sich mit dem ICE auf den Weg macht und schließlich mit einem Taxi nach Crailsfelden fährt.
- CARL ist der Späthippie und Wirt des Wirtshauses ";Taube";, in dem Frank auf seine entfernte Verwandtschaft trifft. Da Carl ihm wie ein Wachhund vorkommt, der wortkarg immer nur dasselbe Glas wienert, wird er durch ihn gedanklich als Zerberus bezeichnet (man erfährt Carls Namen erst durch Gero von Thun, wenn die jungen Leute die Burg erreicht haben). Carl fungiert in diesem Abenteuer zunächst als Wirt, Chauffeur und Hausmeister. Mal sehen, ob sich seine Rolle im Laufe der zeit noch entwickeln wird.
- GERO VON THUN wird als alter Mann bezeichnet, der ein bisschen wie der Butler aus ";The Rocky Horror Picture Show"; wirken soll. Eine hagere Erscheinung mit dünner, blasser Haut. Er ist nur als Stellvertreter der Anwaltskanzlei auf Burg Crailsfelden. Seine Rolle wird nicht richtig klar und niemand weiß, was er vom Tode seines Arbeitgebers weiß. Er entschuldigt sich, dass Herrn Flemming etwas dazwischen gekommen sei, doch weiß man nicht sicher, ob er nun von dessen Tod weiß, oder ob er sich auf dessen Vater bezieht. Überhaupt wirkt der alte Mann sehr unheimlich und scheint eine starke Persönlichkeit zu sein, auch wenn dies anfänglich ganz anders auszusehen scheint. Bei ihm interessiert es mich noch am meisten, wie seine Rolle in diesem Abenteuer weiterhin aussehen mag.
- JUDITH ist eine von Franks Verwandten, die er im Wirtshaus kennen lernt. Frank bezeichnet sie gedanklich immer wieder als ";Pummelchen";, da sie zehn bis fünfzehn Pfund zuviel an Gewicht hat. Doch stellt man ziemlich bald fest, dass diese zusätzlichen Pfunde an genau den richtigen Stellen zu sitzen scheinen. Schließlich ist unser Frank später doch sehr von dieser jungen Frau angetan (und sie von ihm).
- ED heißt eigentlich Eduard und ist der schräge Vogel der Gruppe. Nervtötend und ungehobelt, hat er ein Talent darin, jeden zur Verzweiflung oder zur Weißglut zu treiben. Er scheint es mit Recht und Gesetz nicht immer allzu genau zu nehmen und ist eindeutig das schwarze Schaf der Gruppe. Seine Sticheleien sollen vermutlich seine eigene Unsicherheit und Angst verbergen.
- STEFAN ist der dritte Mann im Bunde. Muskulös, durchtrainiert und mit Bürstenschnitt wirkt er eher wie ein amerikanischer GI, der vor nichts und niemandem Angst zu haben scheint. Er ist ein bisschen der Gegenpol zu Ed, der ihn auch hin und wieder zum Schweigen bringt. Doch Frank hat so seien eigenen Ansichten zu Stefans Auftreten und zu solchen Männern generell.
- MARIA wird immer wieder gern als graue Maus bezeichnet. Obwohl alle angehalten worden sind, nur das Notwendigste mitzubringen, reist sie mit einem Überseekoffer, der offensichtlich ";metallene Unterwäsche"; enthält, die von Frank gedanklich als ";Keuschheitsgürtel"; bezeichnet wird. Sie scheint zudem die einzige zu sein, die sich überhaupt mit dem Multimillionär Krämer und der Geschichte von Crailsfelden auskennt. Ihre Rolle ist noch ziemlich unklar und man weiß nicht so recht, was man mit ihr anfangen soll.
- ELLEN ist intellektuell gesehen vermutlich das Sahnehäubchen der Gruppe. Die ausgebildete Chirurgin hat jedoch die schlechte Angewohnheit, sich sehr bald als die Redensführerin profilieren zu wollen. Ihr gesamtes Auftreten scheint sehr künstlich zu wirken. Sie versteht es offensichtlich, sich in Szene zu setzen. Eine attraktive junge Frau, die gewohnt ist, dass sie alles bekommt, was sie will. Auch bei ihr bin ich gespannt, wie sie sich weiter entwickeln wird.
Wie man unschwer erkennen kann, handelt es sich bei dieser Gruppe wirklich um Menschen, wie sie unterschiedlicher kaum sein können. Zwei Geschlechter, nahezu sämtliche Gesellschaftsschichten… und verhaltensmäßig von schüchtern über besonnen bis hin zu arrogant. Und nun die Aufgabenstellung, dass lediglich ein Paar von diesen ";Kandidaten"; das Erbe wird antreten können. Doch wer mit wem? Vor allem, da eine weitere Bedingung vorsieht, dass das Erbe erst drei Jahre nach der Geburt eines körperlich und geistig gesunden Kindes der beiden Erben ausgezahlt werden wird. Wer wird sich also mit wem zusammen tun?
Vielmehr interessiert aber sehr bald, was es denn nun mit dieser unheimlichen Burg auf sich hat. Was geht in diesen Mauern vor? Alle Teilnehmer träumen denselben Alptraum. Eine Geschichte, die man ebenfalls von Stephen King kennt (The Stand – Das letzte Gefecht). Auch hier werden wildfremde Menschen zusammen gewürfelt und träumen denselben Traum.
Der Schreibstil ist einerseits sehr modern, andererseits aber auch sehr überzeugend düster, wie man es von anderen Horrorgeschichten kennt.
Tolkien wird sich im Grab umdrehen
Mich stört jedoch, dass der Inhalt des Buchcovers schon nicht mit dem tatsächlichen Inhalt überein stimmt. Hier liegen einige Patzer vor, die sich der Verlag auch hätte ersparen können. Aber auch Wolfgang Hohlbein hat einen ziemlichen Patzer in seine Geschichte eingebaut, bei dem sich John Ronald Reuel Tolkien vermutlich im Grab umdrehen würde. Er vergleicht die Burg Crailsfelden nämlich folgendermaßen:
";Mir kam es im Moment aber eher vor wie Mordor, die schwarze Festung des bösen Zauberers Saruman aus dem Herrn der Ringe."; (Seite 73)
Bei diesen Zeilen können einem glatt die Tränen kommen. Sarumans Festung heißt bekanntlich immer noch Isengard und Mordor ist das Land des dunklen Herrschers Sauron und nicht dessen Burg. Hier hätte sich Wolfgang Hohlbein vorab wirklich besser informieren können. Peinlich!
Ansonsten gefällt mir dieser erste Band aber schon recht gut, was mich auch zur Bewertung mit ";gut"; und einer Empfehlung kommen lässt. Ich bin nun wirklich gespannt, wie es in den folgenden Bänden weiter gehen wird.
Wolfgang Hohlbein, Ullstein
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