Flieh, Hexe, flieh!
- Pabel
- Erschienen: Januar 1973
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Winzig klein und mächtig mörderisch
Dr. Lowell, Arzt und Spezialist für Geisteskrankheiten in New York, wird von einem ungewöhnlichen Patienten konsultiert: Julian Ricori, ein gebildeter Gangsterboss, bringt ihm seinen Kumpan Thomas Peters, der ist in eine komatöse Schockstarre gefallen ist. Ricori fürchtet die Giftattacke eines Feindes. Der erstaunte Lowell tut sein Bestes, aber Peters stirbt - und bricht nach seinem Tod in grässliches Lachen aus, während sich sein Gesicht in eine teuflische Fratze verwandelt!
Erschrocken stellt Lowell Nachforschungen an. Ein Rundschreiben an New Yorker Ärztekollegen ergibt, dass sich mindestens sieben ähnliche Fälle in den vergangenen sechs Monaten ereigneten. Kurz darauf kommt Krankenschwester Walters, die für Lowell arbeitet, ebenfalls um. Der Doktor befürchtet eine Epidemie, aber Ricori hat eine andere Theorie: Alle so bizarr Verstorbenen kauften Puppen von der mysteriösen Madam Mandilip! Die hat in einer Seitenstraße einen kleinen Laden, wo sie mit ihrer ‚Nichte‘ Laschna lebt und arbeitet.
Ricori wird mit einer Nadel erstochen. Er überlebt knapp, bleibt aber ans Krankenlager gefesselt. Sein Leibwächter McCann behauptet, eine winzige Puppe sei für den Angriff verantwortlich, und sie habe die Gesichtszüge des verstorbenen Thomas Peters getragen! Daraufhin sucht Lowell Madam Mandilip auf. Die hat ihn längst durchschaut und bereitet ihm nicht nur einen ganz besonderen Empfang, sondern schickt in der Nacht ihre Puppen aus ...
Uralte Machenschaften in moderner Welt
Seit jeher existiert der Glaube an eine ‚zweite Realität‘ jenseits der festen Wegstrecke, die Wissenschaft und Forschung vorgeben. Jene Dinge, die der berühmt-berüchtigte gesunde Menschenverstand (noch) nicht erfassen kann, werden naturgemäß dort verortet, wo (und weil) man ihnen schwer auf die Spur kommen kann: in der Vergangenheit und an Orten, die in der Regel zwecks Überprüfung nicht bereist werden können.
Madam Mandilip repräsentiert gleich beide Fremdsphären. Sie ist eine Hexe, wobei Abraham Merritt sie keineswegs als besenstielreitende Vettel zeichnet, wie es im Mittelalter und in der frühen Neuzeit oft geschah. ‚Hexe‘ ist für ihn eher ein Konzept bzw. die Benennung eines seltsamen, aber realen Wesen, das zu verstehen dem modernen Menschen aufgrund seines fehlenden Wissens und Verständnisses unmöglich ist. Merritt spart sich deshalb jede Erklärung für das bizarre Verhalten der Mandilip. (Wieso erschafft sie Mordpuppen, wenn ihre suggestiven Fähigkeiten stark genug sind, um ihre Opfer direkt zu manipulieren? Pure Bosheit wäre eine dürftige Erklärung, doch Merritt deutet tiefere Beweggründe zumindest an.)
Unausgesprochen, aber deutlich prägt die Furcht vor einer selbstbestimmten, selbstbewussten und nicht zu kontrollierenden Weiblichkeit das Romangeschehen. Madam Mandilip kämpft nicht mit offenem Visier, sondern täuscht, intrigiert und - besonders tückisch und erschreckend! - zwingt Männern buchstäblich ihren Willen auf, wobei sexuelle Untertöne vorsichtig - Merritt schrieb sein Buch 1933 -, aber unmissverständlich anklingen. Vor allem dadurch erfüllt sie den Tatbestand der Hexerei. Ihre Strafe ist hart und muss hart sein, um dem Tenor der Zeit entsprechend die korrekte Weltordnung wiederherzustellen.
Der Forscher, der Gangster & der Cowboy
Das weise und willensstarke, aber gesetzlose und moralfreie ‚Ur-Weib‘ trifft auf einen Vertreter der modernen Welt: Dr. Lovell ist durch und durch Wissenschaftler. Lange leugnet er die Magie der Mandilip; er flüchtet sich in quasirationale und von der Medizin gestützte Erklärungen. Noch als er selbst in den Bann der Hexe geraten ist, versucht er das Erlebte zu rationalisieren. Erst als ihn sein Mitstreiter Ricori in die Enge treibt, gibt er nach und die Realität des nicht Erklärbaren zu.
Julian Ricori ist eine interessante Figur. Seine eigentliche Aufgabe ist die des Vermittlers. Ricori ist ein Mann auf der Höhe seiner Zeit. Gleichzeitig stammt er aus der alten Welt, wie Europa in den USA gern genannt wird. Er ist italienischer Herkunft und als Amerikaner der ersten Generation unter der Tünche des zivilisierten Zeitgenossen gut vertraut mit den Mythen und Aberglauben seiner Heimat. Dazu steht er, und es ist diese Haltung, die dort Bewegung in die Handlung bringt, wo Lovell dazu neigt, sich in seinem Labor zu verschanzen.
Dass Ricori ein Gangster ist, darf als politisch unkorrekter, aber publikumswirksamer Einfall des Verfassers gewürdigt werden. Anfang der 1930er Jahre faszinierten reale Verbrecher-Persönlichkeiten jene braven Bürger, die in sicherer Entfernung nicht unter ihrer Willkür litten. Männer wie Al Capone, John Dillinger oder „Pretty Boy“ Floyd unterwarfen sich weder dem Gesetz noch moralischen Regeln; sie lebten schnell und starben früh. Literarisch und filmisch verklärt, wurden sie zu düsteren Mythen. Von diesem Flair profitiert auch Merritt, der freilich Ricoris kriminelle Machenschaften aus dem Geschehen ausklammert. Der Gangster wird hier zum willkommenen Gefährten, weil er ohne bürokratische Einschränkungen oder die Hilfe einer ohnehin korrupten Polizei direkt gegen die Bedrohung vorgehen kann, die Madam Mandilip darstellt.
Eine weitere Reminiszenz an zeitgenössische Mythen ist die Figur des Leibwächters McCann. Er wird als „Cowboy“ und damit als Mann charakterisiert, der nicht nur mit der Waffe in der Hand die Wildnis zähmte, sondern auch nach einem Kodex lebt, in dem Eigenschaften wie Entschlossenheit, Ehre und Treue ganz oben auf der Liste stehen.
Magie & Mörderpuppen
„Flieh, Hexe, flieh!“ ist ein Trivialroman der „Pulp“-Ära. Der Plot ist simpel, in der Umsetzung arbeitet Merritt recht vordergründig mit spannenden, gruseligen und dramatischen Effekten. Das ist keineswegs abwertend gemeint, denn das gesteckte Ziel guter Unterhaltung erreicht der Autor mit Leichtigkeit. Der Roman profitiert zudem von Merritts intimer Kenntnis des Okkulten; dass er weiß, wovon er schreibt, macht er manchmal allzu deutlich, wenn er Lovell ausführlich dozieren lässt.
Ausgeprägt ist Merritts Gespür für Stimmungen, die er mit Worten heraufzubeschwören weiß, die weder das Alter noch die Übersetzung ihrer Wirkung berauben können. Manches wirkt aus heutiger Sicht altmodisch oder ist zum Klischee geronnen; mordende Puppen haben seitdem vielleicht zu oft ihr Unwesen getrieben. 1933 galt „Flieh, Hexe, flieh!“ als innovativer Roman. Viele Jahrzehnte später profitiert er vom sorgfältig komponierten Aufbau einer Spannung, die langsam aber sicher aufgebaut wird, um sich in einem klassischen Showdown-Finale zu entladen.
Flieht die Hexe - oder brennt sie?
Wie sich Zeiten und (moralische) Regeln ändern, wird am deutschen Titel dieses Romans deutlich. „Burn, witch, burn“, lautet Ricoris hasserfüllter Kommentar, als die Hexe besiegt das Zeitliche segnet.
Während Merritts Roman im angelsächsischen Raum noch heute unter seinem martialischen Originaltitel aufgelegt wird, schreckte man in Deutschland sowohl in den 1950er als auch und ganz besonders in den 1970er Jahren vor „Brenn, Hexe, brenn!“ zurück. Die Gräuel der historischen Hexenverfolgungen waren längst bewiesene Tatsachen. Nun kam im Nachklapp die Verdammung durch Wahrung der politisch korrekten Terminologie hinzu. So entstand der im Wortklang ähnliche, aber die Handlung eher konterkarierende Titel „Flieh, Hexe, flieh“, da Madam Mandilip zu keinem Zeitpunkt die Flucht ergreift. (Im Romanfinale bleibt Ricoris sardonischer Abschiedsgruß übrigens trotz Übersetzung erhalten; dort sticht er nicht so ins Auge und stört keine empfindlichen Gemüter ...)
Hexenjagd im Kino
„Burn Witch Burn“ war ein erfolgreicher Roman, der bald das Interesse Hollywoods erregte. Ab 1930 waren Horrorfilme sehr beliebt und spülten viel Geld in die Kassen der Studios, die deshalb für ständigen Nachschub sorgten.
„The Devil-Doll“, der Film zu Merritts Roman, entstand 1936. Er gilt nicht als Klassiker wie „Dracula“ (1931) „Frankenstein“ (1931) oder „The Mummy (1933; dt. „Die Mumie“), gehört aber trotzdem zu den gelungenen Beispielen seines Filmgenres. Große Namen sorgten für eine eindrucksvolle Umsetzung (obwohl die Story stark verändert wurde): Tod Browning, der bereits Meisterwerke wie „Dracula“, „Freaks“ (1932) oder „Mark of the Vampire“ (1935) inszeniert hatte, drehte nach einem Buch von Garrett Ford („Dracula“, „Dracula’s Daughter“; 1936) und Guy Endore (Autor des Werwolf-Klassikers „The Werewolf of Paris“, 1933; dt. „Der Werwolf von Paris“); unterstützt wurden sie vom Regisseur, Schauspieler und Drehbuchautor Erich von Stroheim. Vor der Kamera agierten großartige Schauspieler wie Lionel Barrymore und Maureen O’Sullivan.
Unter seinem US-Titel „Burn Witch Burn!“ kursiert ein Film, der 1962 unter dem englischen Originaltitel „Night of the Eagle“ ins Kino kam. Dieser (übrigens ebenfalls sehenswerte) Streifen entstand nicht nach Merritt, sondern basiert auf dem Roman „Conjure Wife“ (1943; dt. „Spielball der Hexen“/„Hexenvolk“) des Schriftstellers Fritz Leiber.
„Burn Witch Burn“ und hier besonders das Motiv der mordenden Puppen taucht in vielen anderen Filmen auf, die Merritt als Inspirationsquelle verschweigen. Der jüngere Horror-Fan wird sich hier vor allem an die vielteilige „Puppet-Master“-Serie des Schnellschuss-Produzenten Charles Band (ab 1989) oder an die „Chucky“-Reihe von Don Mancini (ab 1988) erinnern.
Fazit:
Dieser Horror-Klassiker erschien in Deutschland zu Unrecht fast unbemerkt, denn die einfache Geschichte wird sauber entwickelt und sorgfältig erzählt. Nicht grundlos ist hat sie viele spätere Genre-Romane und Filme beeinflusst: im positiven Sinn altmodischer Grusel.
Abraham Merritt, Pabel
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