Die Blutgräfin
- Scherz
- Erschienen: Januar 2000
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Das Gedächtnis des Blutes
Ein angeblicher Frauenmörder stellt sich in New York. Drake Báthory-Keresztur war in den ungarischen Volksaufstand verwickelt und musste 1956 in die USA flüchten. Mit sich brachte er das Grauen seiner bizarren Familiengeschichte. Báthory-Keresztur ist ein Angehöriger des ungarischen Hochadels. Unter seinen Vorfahren finden sich Könige, Fürsten, Grafen - und Elisabeth, die Blutgräfin, die den Verlust ihrer Schönheit verhindern wollte, indem sie im Blut geschlachteter Jungfrauen badete.
Vierhundert Jahre später ist Báthory-Keresztur in seiner Privathölle gefangen. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches ist Ungarn im politischen, wirtschaftlichen und sozialen Umbruch. Bizarre Modelle für ein scheinbar neu geborenes Land werden ausprobiert, in dem die alten Kräfte immer noch präsent sind. Sogar über die Restauration der Monarchie wird nachgedacht. Anführer der Revolutionäre, die dieses Ziel verfolgen, ist Klaus Méguéry, ein Jugendfreund Drakes, der diesen als Anwärter auf den Thron nach Ungarn einlädt. Drake folgt ihm; zwar möchte er nicht König werden, aber Eva, die Liebe seines Lebens, wiedersehen. Diese ist allerdings schon vor Jahren in eine katatonische Starre verfallen und nicht ansprechbar. Tochter Teresa kümmert sich gemeinsam mit Méguérys zwielichtigem Sohn Imre um den Gast aus den USA.
Báthory-Keresztur stellt fest, dass Méguéry nicht nur mit obskuren Sekten, Neonazis und der örtlichen Mafia paktiert; er hat ihn bereits vor 1956 systematisch bespitzelt und an die Kommunisten verraten. Wenig erfreulich sind auch die Ergebnisse von Nachforschungen, die Drake über die eigene Herkunftsgeschichte anstellt: In seiner Familie ist das Böse offenbar eine reale Kraft, die wie bei Elisabeth Báthory über jene kommt, die ihr zufällig oder mutwillig zu nahe kommen. Diese esoterische Theorie vertritt jedenfalls die Historikerin Lilly Hangress. Drake ist spätestens geneigt ihr Recht zu geben, als er in einem einen unheimlichen Mann kennenlernt, der womöglich der unsterblich gewordene Andras von Keresztur ist. Der Vorfahre plant, mit Drakes Unterstützung und Zauberei die Blutgräfin zurück in diese Welt zu holen …
Die Unerträglichkeit realen Grauens
Elisabeth Báthory (1560-1614) ging unrühmlich in die Geschichte als seltenes Beispiel einer psychopathischen Serienmörderin ein. Die „Blutgräfin“ ist wohl die berühmteste Vertreterin ihrer ungeheuerlichen Gattung. Unter bösartiger Ausnutzung ihrer adligen Privilegien ließ sie sich junge Frauen und Mädchen zuführen, die in ihrer Anwesenheit und mit ihrer aktiven Mithilfe bestialisch zu Tode gequält wurden. Als Gattin und später Witwe des ungarischen Kriegshelden Franz Nádasdy und Nichte des mächtigen Pfalzgrafen Thurzo, über denen nur noch der König von Ungarn und der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches standen, war Elisabeth praktisch dem Gesetz enthoben.
Sie konnte foltern und morden, bis ihre rat- und hilflosen Untertanen mit einem Aufstand drohten. Da war es endlich vorbei mit der Blutgräfin, nicht einmal der Einfluss ihrer Familie reichte aus zu vertuschen, was nun offenbar wurde: Die fast lückenlos erhaltenen Untersuchungs- und Prozessakten rekonstruieren das Schreckensbild einer Serienmörderin, die erst gestoppt werden konnte, als angeblich 650 Opfer auf ihr Konto gingen. (Wobei heute schwierig ist zu entscheiden, ob die Anschuldigungen in ihrer Gesamtheit korrekt sind, weil Elisabeths Sturz auch Teil einer politischen Intrige war und die Untersuchungsprotokolle entsprechend ‚frisiert‘ wurden).
Statt sie hinzurichten, sperrte man die mörderische Gräfin in eine Kammer ihres Schlosses in Kaschau (heute Slowakei) und mauerte die Tür zu. Vier Jahre hielt Elisabeth diese Isolationshaft aus; letztlich war diese Strafe vermutlich härter als ein relativ rascher Tod.
Gibt es „das Böse“?
Andrei Codrescu ist wie der fiktive Drake Báthory-Kereztur das Kind zweier sehr unterschiedlicher Kulturkreise. Der 1946 geborene Rumäne kennt die Verhältnisse auf dem europäischen Balkan, dessen Geschichte sich durchaus als ununterbrochene Kette von Blut- und Gewalttaten darstellen lässt.
Codrescu unternahm 1995 den Versuch, sich diesem vor dem Hintergrund der Kosowo-Krise und nach dem Ende des Ceaușescu-Terrors wieder aktuellen Phänomen literarisch zu nähern. Er bediente sich dabei vordergründig des Kriminalromans, den er kräftig mit Elementen des Schauerromans und des historischen Thrillers durchsetzt. Das Ergebnis ist anspruchsvolles, unkonventionelles und gewiss nicht leicht zu lesendes Werk: ein komplexer, tiefgründiger Versuch, die Natur des Bösen zu verstehen oder es wenigstens zu beschreiben, weil der Schrecken, den man quasi spielerisch heraufbeschwört, an Bedrohlichkeit verliert.
Dabei ist Codrescu nicht zimperlich. Szenen oft sexueller Sadismen dieser Intensität erwartet man nicht. Doch jeder voyeuristische Unterhaltungswert wird nachhaltig durch eine quälend sachliche, klinische und spröde Darstellung der detailliert geschilderten Gräuel zerstört: Das Böse lässt sich erklären und womöglich als Ausfluss einer krankhaften Störung deuten, aber es ist niemals faszinierend. Codrescus Elisabeth Báthory ist vielleicht ein weiblicher Dracula oder eine Werwölfin, wahrscheinlich aber ‚nur‘ ein Mensch und deshalb besonders gefährlich: ein weiblicher Hannibal Lecter der frühen Neuzeit.
Erst auf einer zweiten, mehr philosophischen Ebene spielt Codrescu sein Modell vom Bösen als Naturelement durch, das wie die Schwerkraft oder die Zeit einfach ‚da‘ ist - nicht zwangsläufig als negatives Element, sondern zunächst als neutrale Kraft, die erst dort Unheil gebiert, wo sie von schwachen, ihr nicht gewachsenen Menschen unbedacht angezapft wird.
Gespiegelte Geschichte/n
Die Chronik der Elisabeth Báthory ist die Geschichte Ungarns zwischen Mittelalter und Dreißigjährigem Krieg - und ein Spiegelbild des 20. Jahrhunderts, wie Báthory-Keresztur es erleben musste: eine Parallele, die womöglich kein Zufall ist, wie der Verfasser ausführt. Zerrissen im Inneren durch Fehden, religiöse Unruhen, Korruption und Volksaufstände, bedroht von außen durch die Türken, ist Elisabeths Ungarn ein Land, in dem brüchiger Frieden in brutalsten Krieg umschlagen kann.
Schon als Kind wird die Gräfin mit der allgegenwärtigen Gewalt konfrontiert - und findet Gefallen daran. Die äußeren Umstände gestatten ihr auszuleben, was offenbar schon in ihrem Wesen angelegt ist: der psychopathische Drang, die Schwächeren zu dominieren, zu quälen und schließlich umzubringen; ein Drang, der stetig wächst, so wie auch Elisabeths Frustration stärker wird, als sie, eine höchst intelligente Frau, sich in ihrer von Männern dominierten Welt in einer rein passiven Rolle gefangen sieht.
Dann entführt ein neuer Krieg Elisabeths Gatten für Jahre an die Front. Sie kann nun endlich nach eigenem Gusto schalten, walten - und foltern. Rasch verliert sie jede Selbstkontrolle und kommt schließlich zu Fall. Während sie in ihrer Zelle schmachtet, schmiedet sie Pläne für eine Zukunft, in der ihr Tod eine feste Konstante, aber keinen Endpunkt darstellt: Elisabeth will wiederkehren, und dieses Mal wird sie sich nicht mehr erwischen lassen!
Schrecklich freudige Überraschung
Die „Blutgräfin“ bietet keine leichte (oder gar seichte), sondern eine auf ihre Art fesselnde Lektüre. Die Geschichte ist konsequent durchdacht, entwickelt und umgesetzt (sowie ausgezeichnet übersetzt). Auf 300 Seiten gibt es keinerlei Leerlauf, Codrescu drischt nie Stroh. Stattdessen gewinnt man den Eindruck, er habe seine Geschichte wieder und wieder verdichtet, bis sie ihre fast bedrohliche Intensität erreichte. Als Schriftsteller genießt Codrescu international einen ausgezeichneten Ruf. Dies dürfte mitverantwortlich dafür gewesen sein, dass „Die Blutgräfin“ so bleiben durfte, wie wir sie hier kennenlernen: sehr blutig, sehr brutal.
Nachdem man gar zu oft mit denselben faulen Tricks verärgert statt unterhalten wird, ist die Freude groß, auf einen Titel wie „Die Blutgräfin“ zu stoßen - ein Buch, dem das Seltene gelingt, zu überraschen und zu bewegen; auf intelligente und unterhaltsame Art, was sich keineswegs ausschließen muss, wie Codrescu unter Beweis stellt.
Fazit:
Positiv anstrengende, weil unerhört intensive Lektüre, die nicht nur eine spannende Geschichte erzählt, sondern auch dem Wesen des Bösen nachspürt: ein Buch, das in Erinnerung bleiben wird!
Andrei Codrescu, Scherz
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