The Stranger Times

  • Eichborn
  • Erschienen: September 2021
  • 3
The Stranger Times
The Stranger Times
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Marcel Scharrenbroich
100°1001

Phantastik-Couch Rezension vonNov 2021

Klatsch und Tratsch aus der Welt des Übernatürlichen

Voll im „Bild“!!!

Sensations-Journalismus, der über Leichen geht! Stigmatisierung ohne Prüfung auf Wahrheitsgehalt! Reißerische Überschriften in blutroten Großbuchstaben, hinter denen sich beim Blick aufs Kleingedruckte meist nicht viel mehr als ein feuchter Furz im Wind verbirgt! Und dann noch obendrauf die sozialen Medien, wo jedermann seinen ungefilterten Murks in die Welt plärren kann! Dagegen wirken die bunten Wichsblättchen beim Friseur schon fast wie anspruchsvolle Bildungslektüre für Akademiker mit Weitblick. Obwohl… näää. Jedenfalls scheint es einen Markt für solche Art von Nachrichten zu geben, wobei die News meist das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind. Besonders nicht beim momentanen Mangel am Baum-Endprodukt. Obendrein noch ein Wunder, dass solche Schmierblättchen nicht bis zum Anschlag mit Klagen wegen falscher Berichterstattung zugeschissen werden. Da muss man den äußerst fantasievollen Schreiberlingen schon ein cleveres Vorgehen zugestehen, denn sie bewegen sich immer am dünnen Rand der Grauzone, was den Wahrheitsgehalt der jeweiligen Meldungen betrifft. „Auslegungssache“ heißt da das Zauberwort. Was sich auf den ersten flüchtigen Blick (womit wir wieder bei den reißerischen Überschriften in blutroten Buchstaben wären) wie ein waschechter Skandal anhört, entpuppt sich als pfiffiger Kniff, um eine unbedeutende Alltagsmeldung interessant zu verpacken. Hauptsache die Schlagzeile erzielt Aufmerksamkeit. Möglichst einfach und eingängig sollte es sein. In Signalfarben(!) und mit Ausrufezeichen(!!) versehen, dass sich das Papier nur so wellt!!! Bundestagswahl, Corona, Asyl-Politik, Helenes Wampe… wir kennen das alle.

Wer jetzt denkt, dass die Boulevard-Blättchen für die reife Dame ab 90 da die prominente Spitze des Eisbergs wären, kennt noch nicht UFO Report oder das US-Blatt Weekly World News. Zwischen 1979 und 2007 berichtete das Print-Magazin über Bigfoot, explodierende Männer in Friseurstühlen, Menschen befallende Computer-Viren und den allseits beliebten Fledermaus-Jungen… Leser deutscher Tageszeitungen wird die eine oder andere Meldung bekannt vorkommen. Abstrus bis zum Gehtnichtmehr… oder vielleicht doch mit einem Fünkchen Wahrheit gespickt? Die im englischen Manchester angesiedelte Zeitung Stranger Times steht diesem Vorbild jedenfalls in nichts nach. Keine Meldung ist ihren Machern zu weit hergeholt, kein Aufmacher zu lächerlich: „HAUSAUFGABEN FRESSEN NORWEGISCHEN HUND“, „NESSIE HEMMUNGSLOS“, „SATAN ZIEHT ANDERE SAITEN AUF“… albern? Tja, macht Euch selbst ein Bild.

(K)ein guter Start…

…für Hannah Willis. Frisch von Mr. Untreu getrennt und im Eifer des Gefechts unfreiwillig die Behausung niedergebrannt, ist sie momentan auf Jobsuche. Sie möchte auf eigenen Beinen stehen und wieder voll durchstarten. Dafür nimmt die Ex-Mrs. Drinkwater auch ungeliebte Vorstellungsgespräche in Kauf. Eines hätte sie fast verschlafen. Eines, welches die Aussicht auf einen vermeintlich unspektakulären Job verspricht, ihr Leben jedoch gänzlich auf den Kopf stellen soll: Ein Posten bei der Stranger Times.

Chefredakteur Vincent Banecroft, in dessen siffigen Büros sich Hannah während des Gesprächs wiederfindet, entpuppt sich als regelrechter Kotzbrocken ohne irgendwelche Manieren, Selbstachtung und Selbstbeherrschung. Einem Fläschchen Whisky am Morgen nicht abgetan, interviewt er die arme Hannah auf seine ganz eigene Art. Zur großen Überraschung – vor allem für Hannah – bekommt sie den Job. Fortan soll sie die stellvertretende Chefredakteurin eines überschaubaren Teams sein. Neben dem muffigen Chef besteht dieses aus der bibeltreuen Vorzimmerdame Grace, der einsilbigen Stella und den beiden Vielschreibern Reginald und Ox. Letzterer ist fest von der Existenz von UFOs überzeugt, während Reggie ganz irdische Probleme plagen. Und wie jeden Montag, versucht er, sich durch einen Sprung vom Firmengebäude das Leben zu nehmen… Redaktionssitzungen können aber auch eine Belastung für eine zartbesaitete Seele sein. Vor allem bei einem Chef wie Großmaul Banecroft, der sich für jedes Mal, wenn er unflätig den Namen des Herrn missbraucht, von Grace das Maul mit Seife auswaschen lassen muss. So, dieser marode Bau – eine heruntergekommene Kirche, die mit einem Gotteshaus nur noch die Bauweise gemein hat – soll mit seinen zum Teil ebenfalls maroden Mitarbeitern also Hannahs neuer Arbeitsplatz werden? Na danke… wäre sie mal im Bett geblieben.

Sieht Hannah ihre neue Stelle noch mit gemischten Gefühlen, wäre der junge Simon liebend gerne in ihrer Position. Banecroft hat dem eifrigen Burschen den Zutritt ins Gebäude untersagt, was ihn jedoch nicht daran hindert, tagtäglich dort aufzutauchen und auf eine Anstellung zu hoffen. Simon soll noch wichtiger Teil der Geschichte werden, denn er kreuzt bei eigenmächtigen Ermittlungen, bei denen er sich als würdiger Redakteur beweisen will, die Untersuchungen des Migräne-geplagten Ermittlers Sturgess. Der Detective Inspector ist mit einem mysteriösen Mordfall betraut, bei dem der Tathergang selbst einige Rätsel aufgibt. Hannah und Sturgess stoßen bald ebenfalls aneinander, denn der übernatürliche Mord und ein Schlag, der die gesamte Belegung der Stranger Times bis ins Mark trifft, stehen eng miteinander in Verbindung.

„…bis jetzt enthält sie nichts außer einigen der deprimierendsten Kontaktanzeigen, die Sie jemals zu Gesicht bekommen werden, drei Leserbeschwerden und dem Foto eines japanischen Ziegenbocks, der aussieht wie Kylie Minogue.“

Der Humor in „The Stranger Times“ ist zum Schreien. Herrlich britisch, flott und stets auf den Punkt. In rasanten Wortgefechten schießen die Akteure messerscharfe Spitzen in enorm hohem Tempo ab. Da bleibt kein Auge trocken, wenn Chefredakteur Vincent Banecroft wild fluchend durch die Redaktionsräume poltert, Grace mit Mühe und Not versucht, den Namen des Herrn vor Rufschädigung zu bewahren, und Neuling Hannah verzweifelt und überfordert zwischen den Stühlen sitzt. Selbst dann nicht, wenn Banecroft die Flinte rausholt und damit droht, den stets selbstmordgefährdeten Reggie vor der Suizid-Umsetzung eigenhändig über den Jordan zu schießen. Das Herz haben aber alle am rechten Fleck. Manche tragen es auf der pelzigen Zunge, andere wiederum verstecken ihre Gefühle. Klar ist auch, dass jeder sein Päckchen zu tragen hat, was in Zukunft bestimmt noch näher thematisiert werden wird. Interessant ist jede der illustren Figuren, die allesamt hohen Wiedererkennungswert haben. Im Ernstfall ziehen sie alle an einem Strang, was die bunte Besetzung mehr oder minder Wahnsinniger einfach liebenswert macht.

Und Zusammenhalt ist wichtig, denn trotz der leichten Momente geht es in „The Stranger Times“ höchst spannend, dramatisch und übernatürlich zu. Tragische Momente holen die Leserinnen und Leser zwischenzeitlich wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Diese gehen einem dann auch nah, da das Buch sich speziell in der ersten Hälfte sehr viel Zeit lässt, um die Charaktere bestmöglich zu etablieren. Dadurch zieht sich die Handlungsentwicklung und die Spannungskurve verläuft zunächst noch konstant waagerecht, was sich im späteren Verlauf jedoch rapide ändert. Dann schnellt der Pegel in die Höhe und es geht Schlag auf Schlag. Aufgelockert wird die Handlung immer wieder durch veröffentlichte Artikel in der Stranger Times. Hanebüchene Sensationsmeldungen der dritten Art… und darüber hinaus.

Stand up for Mr. McDonnell

Hinter dem Kürzel C. K. verbirgt sich der irische Stand-up-Komiker Caimh McDonnell. Er schrieb bereits mehrfach fürs Fernsehen und man merkt sofort, dass er sein Handwerk versteht. Wortgewandt und very british. Sein Vincent Banecroft ist fast schon ein Abziehbild eines Bilderbuch-Cholerikers, in dem sich außerdem noch ein gebrochener Alkoholiker mit schmerzlicher Vergangenheit findet. Die bibeltreue und herzensgute Grace ist da der passende Gegenpol. Während der verschlossene Teenager Stella sich anfangs geheimnisvoll und stets mürrisch gibt, liefern die beiden Redakteure Ox und Reggie beste Statler-und-Waldorf-Momente ab. Herrlich geschrieben und auf keiner Seite langweilig. Da ist es zu verschmerzen, dass in der deutschen Übersetzung (zumindest in meinem Lese-Exemplar) mal ein Name falsch eingefügt oder Figuren plötzlich sprunghaft ihre Namen abgeändert bekommen haben. Das Hardcover von EICHBORN ist mit einem schwarzen Farbschnitt und Lesebändchen erschienen.

C. K. McDonnell hat bereits mit seiner „Dublin“-Reihe einiges an Aufmerksamkeit erregt. Der Stilmix aus Komik und Krimi traf den Nerv des Publikums und wurde bereits mit den Werken des großen Terry Pratchett (Die „Scheibenwelt“-Romane; 1948 – 2015) verglichen. Nicht von ungefähr, denn der white haired Irishman zeigt in „The Stranger Times“ fast schon spielerisch, wie gut Fantasy und Comedy Hand in Hand gehen können. Bleibt zu hoffen, dass die früheren Bücher des irren Iren nach diesem Trilogie-Auftakt ebenfalls den Sprung nach Deutschland schaffen. Leserinnen und Leser, die englischsprachigen Romanen nicht abgeneigt sind, können sich auf McDonnells „Dublin“-Serie und eigenständige Bücher stürzen, bevor für Mitte Februar 2022 der zweite „Stranger Times“-Band mit dem Titel „This Charming Man“ in den Startlöchern steht. Für mich heißt es nun Warten, bis EICHBORN hoffentlich zeitnah die deutsche Übersetzung nachlegt. Die ist nämlich bereits im ersten Band durchaus gelungen.

Fazit:

Selten hatte ich mehr Spaß mit einem Roman. Der sympathisch-chaotische Haufen der Stranger Times-Redaktion wächst einem unglaublich schnell ans Herz. Ich möchte jeden einzelnen unbedingt näher kennenlernen und kann es kaum erwarten, bis die heiligen Hallen der wohl verrücktesten Zeitung der Welt zur nächsten Redaktionssitzung einladen. Ein Urban-Fantasy-Krimi der ganz, ganz lustigen Art.

The Stranger Times

C. K. McDonnell, Eichborn

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