Desperation

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1996
  • 8
Desperation
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonFeb 2006

Kleiner, mörderischer Fauxpas am Schöpfungstag

AbsatMinenarbeiter befreien eine tief unter der Erde begrabene Kreatur aus der Urzeit des Universums, die ihren Aktionsradius mörderisch über die moderne Welt ausdehnen will; nur sieben denkbar untaugliche Krieger stellen sich ihr in den Weg ... - King-Horror der bekannten aber eben auch bewährten und unterhaltsamen Art; seltsam mutet die dem Autor sonst fremde, fundamentalchristlich-naive Weltsicht an, die sich als Stilmittel mühsam tolerieren lässt: Grusel mit Stimmung trotz deftiger Schlächtereien.

Desperation ist eine jener unzähligen Kleinstädte im Nirgendwo des US-Staates Nevada, die im 19. Jahrhundert im Zuge eines kleinen Goldrausches gegründet wurden, Nach dem Versiegen der Bodenschätze zählt der Ort keine 200 Einwohner mehr. Für neue Hoffnung sorgte eine Minengesellschaft, die mit modernen Methoden Edelmetall auch aus ausgelaugtem Geröll gewinnen kann.

Stattdessen stießen die Bergleute unter der Erde auf ein uraltes Grauen: Vor langer Zeit ist es der Kreatur Tak gelungen, in diese Welt vorzustoßen. Tak stammt aus der Urzeit des Universums, seine Existenz beschränkt sich darauf, Böses über die Menschen zu bringen. Er hat Macht über die Tiere der Wüste und kann in die Körper seiner Opfer schlüpfen. Derzeit steckt er im Leib des Deputys Collie Entragian, der seine Amtsgewalt missbraucht, um auf dem Highway 50 neue Opfer ins menschenleer gemordete Desperation zu locken.

Im Gefängnis des Städtchens finden sich die Überlebenden der Familie Carver - Vater Ralph und Sohn David -, der Schriftsteller John Marinville, sein ´Aufpasser´ Steve Ames, die Anhalterin Cynthia Smith, die Dozenten-Gattin - jetzt Witwe - Mary Jackson und Tierarzt Tom Billingsley dem grausamen Wesen ausgeliefert. Sie sollen Tak als ´Ersatzkörper´ dienen, denn Deputy Entragian beginnt durch die ´Infektion´ mit dem ungebetenen Gast zu zerfallen.

Tak hat die Rechnung allerdings ohne den jungen David Carver gemacht. Dieser hat seit einem elementaren Aha!-Erlebnis einen direkten Draht zu Gott, dem nicht gefällt, dass ein unerfreuliches Nebenprodukt der Schöpfung sein Unwesen treibt. Gott ernennt die kleine Gruppe zu seinen Streitern. Sie sollen Tak stellen und in seine Höhle zurücktreiben. Allerdings hat dieser längst Wind von Gottes Plan bekommen und Gegenmaßnahmen eingeleitet. Desperation wird von besessenen Tieren und einem Sandsturm von der Außenwelt abgeriegelt. Dann geht Tak auf die Jagd ...

Das Ding unter der Erde

Seit Stephen King selbst von ´ernsthaften´ Kritikern beinahe als Literat anerkannt wird, geraten seine ´echten´ Gruselromane ein wenig ins Zwielicht. Es gilt als wesentlich intelligenter und raffinierter, den Schrecken im Menschenhirn und nur dort keimen zu lassen. Die echten Monster sind altmodisch geworden. Sie treiben ihr Unwesen bevorzugt im B- und C-Movie oder werden - sie haben das nicht verdient! - in Form und Verhalten ´modernisiert´.

King sitzt auch aufgrund seiner langen ´Dienstzeit´ inzwischen zwischen den Stühlen. In den 1970er und 80er Jahren brachte er frischen Wind in das Horror-Genre, indem er es in die alltägliche Tristesse der Gegenwart transportierte. Alte Mythen wurden nicht einfach auf den Kopf gestellt, sondern hinterfragt und behutsam abgestaubt. Vampire, Werwölfe, Gespenster: King gelangen ´realistische´ Neu-Versionen schon antiker Schrecken, denen er betont Durchschnittsmenschen gegenüberstellte.

Das formlose Grauen aus dem Weltall oder einer fremden Dimension steht zwar am Ende einer langen Schlange klassischer Gruselgestalten, gehört aber dennoch zum Kanon. Arthur Machen (1863-1947), William Hope Hodgson (1877-1918) und vor allem Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) bedienten sich diverser noch junger Naturwissenschaften, um literarisch ´Leben´ zu schaffen, das außerhalb der irdischen Evolution entstand.

Aus dunklen Seitengassen des Universums

Lovecraft kreierte 1928 den "Cthulhu"-Mythos, den viele zeitgenössische Autoren aufgriffen und ausbauten. Auch nach Lovecrafts Tod lebte Cthulhu weiter. Jüngere Schriftsteller erlagen dem Reiz dieser eigenwilligen Weltsicht, die viel Raum für eigene Einfälle bot. Im 21. Jahrhundert erscheinen jährlich mehr Cthulhu-Geschichten als Lovecraft zeit seines Lebens schrieb.

Auch Stephen King stützt sich auf Lovecraft. Tak ist eine Kreatur aus der wilden Frühzeit des Universums. Naturgesetze und Evolution glänzten dort durch Abwesenheit, was dem Leben groteske Experimente ermöglichte, deren Ergebnisse später tunlichst aus der kosmischen Chronologie gestrichen wurden - wenn es denn möglich war, denn Tak & Co. mussten sich der ´neuen´ Ordnung des Universums nur beugen, ohne je gebrochen zu werden.

Tak spielt nicht in der Liga eines Cthulhu. Er ist kein in seinem Grauen faszinierendes Wesen, sondern eine auf die Stillung eigener Bedürfnisse konzentrierte Kreatur. Tak hat keinen großen Plan, wie King offenbart, sondern ist zufrieden damit, Menschen zu übernehmen und zu töten. Er wirkt eher wie eine intelligente Seuche, was ihn trotz seiner übernatürlichen Fähigkeiten angreifbar macht.

Damit erinnert Tak verblüffend an Chaugnar Faugn, jenen ´minderen´ Vertreter uralter, mächtiger, böser Quasi-Wesen, den Lovecrafts Kollege und Freund Frank Belknap Long (1901-1994) 1931 im Kurzroman "The Horror from the Hills" ("Das Grauen aus den Bergen") losließ. Die finale ´Rückkehr´ des Monsters als himmlische oder wenigstens himmelsfüllende Erscheinung ist womöglich eine direkte Reminiszenz an Long; King ist ein ausgewiesener Kenner der Horror-Historie und somit nicht nur vertraut mit Lovecraft - dessen Cthulhu-Mythos er selbst um einige Storys bereichert hat -, sondern auch mit dem "Lovecraft-Zirkel".

Die Stimme des HERRN

Die Storyline von "Desperation" ist erprobt und typisch für King: Eine Gruppe zufällig zusammengewürfelter Menschen muss sich isoliert von der helfenden Restwelt einem übermächtigen Grauen stellen. Die Konvention erfordert es, dass diese Gruppe nur in einem Punkt homogen ist: Sämtliche Mitglieder sind faktisch für die gestellte Herausforderung untauglich. King greift hier auf alltägliche Schwächen zurück. So ist John Marinville alkoholkrank, gerät Cynthia Smith stets an charakterschwache aber prügelstarke Männer, versagt Ralph Carver als schützender Ehemann und Vater, ist David ein Kind.

Ausgerechnet David wird zur zentralen Figur des Widerstandes. Gott berührt ihn - und das ist keine der von King gern zum Einsatz gebrachten bildreichen Metaphern. Nein, Gott betrachtete alles, was er geschaffen hatte, und er sah, dass eben nicht alles sehr gut war; zu diesem Schluss war er im Buch Genesis, 1, 31 gekommen und hatte dabei Tak und andere missglückte Lebensstudien verdrängt. Natürlich fährt Gott nicht in David und tritt Tak kräftig in den Arsch; solche Simpel-Lösungen überlässt King weniger begabten Kollegen wie Brian Keene. Freilich ist die Alternative alles andere als genial.

Da ist Gott als Figur. King lässt IHN zwar ´in Maske´ aber nichtsdestotrotz persönlich auftreten. Es gibt ihn, und King macht ihn zu einer Kraft, die nur unwesentlich menschenfreundlicher als die ´alten´ Götter wie Tak ist. Da King kein fundamentalchristlicher Feuerfresser ist, sondern entsprechend gepolte Eiferer immer wieder als Negativfiguren charakterisiert hat, muss ihn wohl dieser Widerspruch fasziniert haben: "Gott ist grausam". Dieser Satz fällt immer wieder.

Gemeint ist der Gott des Alten Testaments, der Auge um Auge, Zahn um Zahn Gehorsam und Gefolgschaft forderte. Womöglich ist er dem Menschen, den er geschaffen hat, ebenso fremd wie Tak, was laut King seine Entscheidungen nicht erklären aber begründen könnte. Nur deshalb gerinnt "Desperation" nicht zum evangelikal bzw. missionarisch mythentümelnden Halleluja!-Horror à la Tim LaHaye/Jerry B. Jenkins oder Ted Dekker. Dennoch geht King hart an die Grenze des für den nicht im "bible belt" beheimateten Leser Erträglichen.

Kings Mikro-Kosmos

Die Figurenzeichnung ist typisch King. Wer mag, kann nach autobiografischen Parallelen zwischen dem Verfasser und dem ausgebrannten Schriftsteller Marinville fahnden und dürfte fündig werden; King war selbst viele Jahre alkohol- und kokainabhängig. Ansonsten beeindruckt wieder einmal Kings Blick und Sinn für das Alltägliche. Werbesprüche, Songtexte, Sticker, Graffiti: Das Leben wird durch Trivialitäten geprägt, die je nach den Umständen tröstlich oder beängstigend wirken können. King setzt zudem auf die Kraft der angstvollen Erwartung: Geradezu filmisch dehnt er die Momente vor dem Sturm, der den tatsächlichen Auftritt des Grauens darstellt. Die Nerven werden zum Zerreißen gespannt, wobei King nur selten den Bogen überspannt und die Entladung allzu lange hinauszögert.

Zwar ehrenvoll objektiv aber dennoch nur bedingt überzeugend gelingt King der Weg vom Saulus zum Paulus, den nach David Carver auch John Marinville beschreitet. King bemüht sich, den Blitz der göttlichen Erkenntnis in glaubhafte Bilder zu fassen. Der Skeptiker wird dennoch unbeeindruckt bleiben.

Obwohl der Bodycount beträchtlich ist, gerät King nie in den Sumpf jenes stumpfsinnigen "Extrem"-Horrors, der sich auf von sexuellen Sadismen begleitete Splatter-Exzesse beschränkt. Wenn es eklig wird, gibt es dafür eine im Rahmen der Story logische Erklärung. Der Effekt bleibt der Handlung untertan; nur selten gehen dem Verfasser die Ekel-Pferde durch.

"Desperation" gehört letztlich zu den King-Romanen, die in der Rückschau gewinnen. Nur noch eine halb vergessene Kuriosität ist der Einfall, Tak in einem ´Parallel-Roman´ auftreten zu lassen, für den King sein längst durchschautes Pseudonym "Richard Bachman" aufleben ließ. In "Regulator", ebenfalls 1996 erschienen, verwendete King sogar dieselben Namen, charakterisierte die Figuren jedoch anders - ein sinnloser, allein dem Werbe-Hype geschuldeter Trick.

"Desperation" - die Serie

Man könnte sagen, dass Stephen King als Ausgleich für seinen Erfolg als Schriftsteller mit einem Fluch belegt wurde: Seine Werke werden stets verfilmt - und scheitern in der Regel erbärmlich. "Desperation" bildet keine Ausnahme. 2006 entstand eine dreiteilige Mini-Serie. Da im Fernsehen noch mehr als im Film die Zuschauerquoten zählen, ging der Sender auf Nummer Sicher und engagierte als Regisseur den King-´Spezialisten´ Mick Garris, der erstmals 1992 mit "Sleepwalker" ("Stephen King's Schlafwandler") ein Werk des Meisters umsetzen durfte.

Garris ist besitzt kaum einen Funken Inspiration, ist aber verlässlich und dreht im zeitlich und finanziell vorgegebenen Rahmen. 1993 gelang ihm mit der hoch budgetierten Fernseh-Mini-Serie "The Stand - Das letzte Gefecht" ein enormer Erfolg, obwohl die typischen Garris-Makel - Klischees, Handlungsleerlauf, Gefühlsduselei - deutlich durchschlugen.

Auch Desperation bietet Langeweile auf handwerklich hohem Niveau. Gute Darsteller wie Tom Skerrit, Annabelle Gish oder Ron Perlman können gegen das von King selbst geschriebene, behäbige Drehbuch nicht anspielen. Die Gruppendynamik versinkt im Kitsch, noch peinlicher missrät der "Gott-Faktor", der in der Umsetzung wie die Parodie auf eine jener unseligen "Erwachet!"-Produktionen wirkt, mit denen brachialchristliche Studios ihre Schäfchen verdummen.

Michael Drewniok im September 2013

Desperation

Stephen King, Heyne

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