Wo das Böse lauert
- Festa
- Erschienen: November 2019
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Verloren zwischen Vorurteil und Grauen
Irgendwo dort im US-Staat Oregon, wo die Wälder besonders dicht sind, liegt das Nest Deer Valley. Bewohnt wird es von wirtschaftlich und kulturell abgehängten Hinterwäldlern, die hart für wenig Geld arbeiten. Die Freizeitbeschäftigungen beschränken sich auf Saufen, Fernsehen sowie das Terrorisieren von Frau und Kind, denn ‚Gleichberechtigung‘ gilt hier als Schimpfwort. Die Clarks sind in dieser Beziehung eine Musterfamilie. Der Vater hat sich vor Jahren davongemacht und die Gattin mit zwei minderjährigen Söhnen und mittellos zurückgelassen. In ihrer finanziellen Not heiratete die Mutter erneut und geriet an Terry, einen Widerling, der sich den weiter oben beschriebenen Aktivitäten enthusiastisch widmet. Duncan und vor allem der zehnjährige Stevie hassen „den Tyrann“, aus tiefster Seele.
Stevie ist gehandicapt durch eine psychische Störung. Vor allen in Stresssituationen gerät er außer sich. Außerdem ‚sieht‘ er Dinge, die nachweislich nicht existieren. In der Schule wird er gehänselt, in der Stadt gilt er als potenziell gefährlicher Sonderling. Stevies einziger Freund ist der zwölfjährige Jude Brighton, sein Nachbar und Cousin. Auch Jude hat Schwierigkeiten. Seit dem Unfalltod des Vaters steckt er voller Aggressionen, die er zunehmend schwerer kontrollieren kann.
Hunde und Katzen verschwinden in Deer Valley rasch. Vor Jahren wurde der grausam entstellte Leichnam eines Kindes gefunden. Man hält sich von dem die Stadt umgebenen Wald fern - theoretisch. Ein scheinbar verlassenes Haus zieht vor allem Jude magisch an. Als er eines Tages spurlos verschwindet, ist Stevie sich sicher, dass ihn sein Schicksal dort ereilt hat. Zwar kehrt Jude zurück, aber der Freund hat sich verändert - er ist besessen und setzt alles daran, nun Stevie in das alte Haus zu locken …
Das Böse hat einen Namen …
… und der lautet hier - tatsächlich! - „Otto“. Was immer die Autorin sich dabei gedacht hat - soll es die Diskrepanz zwischen monstermütterlicherseits ersehnter Friedfertigkeit und tatsächlicher Niedertracht verstärken? -, es funktioniert nicht, sondern irritiert, was jedoch nicht das zentrale Problem dieses Gruselgarns darstellt.
Beginnen wir mit dem (eigentlich) Erfreulichen: Ania Ahlborn bewegt sich in Stephen Kings Territorium, ohne dort zu wildern. Ein Kind gerät in eine Krisensituation, die es nicht bewältigen kann. Stevie ist ein Außenseiter, der in einer dysfunktionalen Familie lebt und damit zusätzlich isoliert ist. Überhaupt ist Stevies Welt mehrschichtig. Oberflächlich wirkt freundlich und idyllisch, während es unter der Oberfläche schäbig und hässlich zugeht, bevor der ‚übernatürliche‘ Schrecken einsetzt. Das Böse ist tückisch, passt sich an und nutzt die Schwäche des Kindes in einer gleichgültigen bis feindseligen Gesellschaft.
Das Szenario wirkt vertraut, doch der Vergleich zwischen Ahlborn und King hinkt. So ist die Autorin deutlich kompromissloser in der Schilderung einer Welt, in der Stevie Clark nie wirklich eine Chance hat. Es gibt keine Nische, in die er sich vor dem brutalen Schwiegervater, dem tumben Bruder, der besitzergreifenden Mutter oder den gleichgültig-gehässigen Mitbürgern flüchten kann. King würde Stevie nicht mit solcher Inbrunst in seiner Alltagsmühle zerreiben.
Allzu viel Pech tötet das Mitgefühl
Deer Valley ist ein verfluchter Ort. Liegt es daran, dass hier nur Widerlinge hausen? Man existiert, statt zu leben, beobachtet einander argwöhnisch, registriert jede verdächtige ‚Abweichung‘, bunkert sich ein, stößt Außenseiter erst vor die Köpfe und dann aus. „Fremd“ ist stets verdächtig, Kommunikation beschränkt sich auf Flüche und Plattitüden, Freundschaften sind selten bzw. nur eine weitere Quelle lebensbedrohlichen Kummers.
Sowohl die Clarks als auch die Brightons fügen sich in dieses düstere Bild. Stevie soll eine Ausnahme darstellen, aber hier schießt Ahlborn über ihr Ziel hinaus bzw. scheitert. Wo Stephen King einfühlsam die Figur eines einsamen, ausgeschlossenen Kindes geformt hätte, fügt sie der Handlung nur einen weiteren Anti-Charakter ein. Stevie ist nicht wie vermutlich geplant ein Sympathieträger, sondern ein nervendes Ärgernis. Ahlborn misslingt es, ihn als schwaches Kind, aber starken Geist zu formen. Womöglich möchte sie die Aussichtslosigkeit einer Geschichte betonen, die keinerlei Finalglück vorsieht. In diesem Fall müsste man ihr vollen Erfolg bescheinigen, der freilich teuer erkauft ist: Wenn es letztlich auch Stevie erwischt, ist dies weder eine Überraschung noch eine Tragödie. Die Autorin lässt ihn gnadenlos über die Klinge springen. Nie ließ sie uns eine Verbindung aufbauen. Stevie ist zu hirnkrank; statt Mitleid zu wecken, will man ihn in den Hintern treten, wenn er wieder einmal end- und nutzlos herumstottert, statt auf den Punkt zu kommen.
Ahlborn lässt Stevie durchweg ins Leere laufen. Die kollektive Nicht-Empathie der Bewohner von Deer Valley ist nicht nur ein Hinder-, sondern ein Ärgernis. Sie wirken schauerlich überdreht in ihrer vernagelten Ignoranz. Das schließt den ebenfalls niemals liebenswerten Jude Brighton ein, der ebenfalls von einem Nackenschlag zum anderen vegetiert. Wir lernen ihn kennen, aber auch er bleibt uns gleichgültig, und so bleibt es bis zum dramatischen, jedoch erneut unbefriedigenden Höhepunkt.
Zurück zu Otto!
Dass die Geschichte ihre Leser nicht mitnimmt, liegt zu einem weiteren Gut- (bzw. Schlecht-) Teil an der Entscheidung, das Mysterium von Deer Valley urplötzlich zu enthüllen. Viele Seiten hat die Verfasserin in die Geschichte von Stevie, Jude und einem unsichtbaren, aber sehr präsenten Grauen investiert. Nun folgt die Story von Rosamund und Otto - und aus einem unheimlichen Rätsel wird die platte Geschichte eines gehässigen Hellboys, der erst seine ‚Mutter‘ und dann die Trantüten von Deer Valley terrorisiert.
Die Herkunft von Otto bleibt ungelüftet. Angesichts des erzählerischen Aufwands, den Ahlborn diesbezüglich treibt, trägt dies zu den Enttäuschungen bei, die dieser Roman erzeugt. Jenseits der ungeschickten Andeutung einer finsteren Macht ist Otto schlicht ein Dämon, der niemanden leiden kann und ausschließlich seine niederen Bedürfnisse befriedigen will. Dass Ahlborn gleichzeitig die traurige Geschichte von Rosamund Ansel erzählen möchte, gerät rasch in Vergessenheit: Auch sie ist keine Figur, sondern eine Sammlung ärgerlicher Klischees, die ihr Denken und Handeln beherrschen. Als Bösewicht ist Otto vor allem erfolgreich, weil die Bewohner von Deer Valley noch dämlicher sind als er.
Als Erzählerin bekommt Ahlborn ihren Hang zur unnötigen Ausführlichkeit nie in den Griff. Jeder Gedanke, jede Bewegung wird endlos beschrieben, kommentiert, ausgewalzt und wiederholt. „Wo das Böse lauert“ könnte problemlos um mindestens 150 Seiten erleichtert werden. Die Story ist simpel und vergleichsweise ereignisarm. Sie tritt auf immer wieder der Stelle und verkraftet die Überfrachtung mit herbeigezwungenen Gefühlen schlecht. Wo King - der kein filigraner Autor ist - seine Geschichte ziseliert, schlägt Ahlborn sie mit dem Vorschlaghammer in Stein. Aufregung geliert zu Hysterie, weil alles schrecklich ist bzw. sein soll. Aus Stevies gestörter Sicht mag dies durchaus so sein. Als Leser will man es irgendwann einfach nicht mehr wissen, weil die Story einfach keinen Überraschungs-Mehrwert bietet. Dies unterstreicht ein ärgerlicher Epilog, der - wer hätte es (nicht) gedacht? - a) offenlegt, dass Otto überlebt hat und b) bereits das nächste Opfer nach Schema F an der Angel hat.
Fazit:
Was unheimlich und stimmungsvoll als „Coming-of-Age-Horror-Story“ beginnt, fällt zur eindimensionalen Monsterhatz zusammen. Emotion ist stets Übertreibung, was den ohnehin beträchtlichen Handlungsleerlauf verstärkt. Die Figuren lassen kalt. Allzu verbissen versucht die Autorin den Schrecken zu erzwingen, schlingert zwischen ‚psychologischem‘ Schrecken und Splatter-Horror und ersetzt ein echtes Ende durch einen faden „Fortsetzung-folgt“-Epilog.
Ania Ahlborn, Festa
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