Strange Weather - Vier Novellen
- Festa
- Erschienen: November 2020
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Vier dies- und jenseitige Belege für das unerwartete Böse
Vier Kurzromane beschreiben die Konfrontation der Realität mit dem Übernatürlichen oder zumindest Unerwarteten:
- Schnappschuss (Snapshot), S. 7-134: Der 13-jährige Michael Figlione litt bisher vor allem unter seinem Übergewicht. Nun hat er den „Polaroid-Mann“ verärgert, der seine Opfer mit einer Sofortbild-‚Kamera‘ fotografiert und ihnen dadurch die Erinnerung raubt. Diese Scharte will der unheimliche ‚Mann‘ unbedingt auswetzen, aber er unterschätzt Michaels Einfallsreichtum.
- Geladen (Loaded), S. 135-360: Der Zufall und eine mörderische ‚Bearbeitung‘ des Tatorts verhelfen dem Rassisten und Psychopathen Randall Kellaway zu Ruhm und Ehre, der anscheinend eine Amokläuferin ausschalten konnte. Doch die hartnäckig recherchierende Journalistin Aisha Laternglass kommt ihm auf die Schliche und treibt Kellaway Stück für Stück über den schmalen Rand seiner Selbstbeherrschung hinaus.
- Hoch oben (Aloft), S. 361-496: Sein erster Fallschirmabsprung endet abrupt und unerwartet, als Aubrey ausgerechnet auf einer Wolke aufprallt. Diese besteht ganz sicher nicht aus Dampf und ist außerdem ‚intelligent‘ ist. Das seltsame Wesen soll und will hüten - und ist begeistert, sich um jemand kümmern zu können. Dass Aubrey dies nicht überleben wird und Fluchtgedanken hegt, stößt auf folgenreichen Unmut.
- Regen (Rain), S. 497-649: Aus diesen Wolken fallen keine Regentropfen, sondern messerscharfe Klingen, die auf der ganzen Erde für massenhaften Tod, Entsetzen und kollektiven Wahnsinn sorgen, den Honeysuckle Speck stellvertretend für ihre US-Mitbürger/innen erleben bzw. durchleiden muss.
- Nachwort (Afterword), S. 650-654
„Kurz und gut“: Ein Sprichwort beweist seine Kraft
Zwar ‚outet‘ sich Joe Hill nur in einer Nebenbei-Anmerkung als Sohn des Horror-Königs Stephen King, doch schon die Existenz dieser Sammlung ist eine Hommage an den Vater, der sich seit Jahrzehnten hartnäckig weigert, die Novelle bzw. den Kurzroman als aussterbende Literaturgattung zu meiden. Zwar nehmen Kings Romane seit Jahren an Umfang stetig zu, aber parallel dazu schreibt er Erzählungen. Dies hat Sohn Hill übernommen, der auch des Seniors Begründung verinnerlicht hat: Der Kurzroman ist ideal für Ideen, die einen Roman nicht tragen, sich aber nicht auf eine Story verdichten lassen, weil sie u. a. intensive Figurenzeichnungen mit Vorgeschichten benötigen.
Wer als Leser schon länger der Phantastik verfallen ist - hier gilt es bis in die frühen 1980er Jahre zurückzuschauen -, ist nicht überrascht. Tatsächlich waren Genre-Romane (aus heutiger Sicht) einst mehrheitlich erstaunlich kurz. Eine Gesamt- Geschichte wurde problemlos auf 150 bis 200 Seiten erzählt und stellte ihre Leser zufrieden. Das stetige Aufblähen nur bedingt dafür tauglicher Plots ist eine ‚Errungenschaft‘, für die - darin liegt eine gewisse Ironie - Stephen King deutlich mitverantwortlich ist, weil seine erfolgreichen Werke die Epigonen antrieb, ebenfalls in die Breite zu gehen = den Quark zu treten.
Joe Hill präsentiert in „Strange Weather“ vier Kurzromane, die er zwischen 2012 und 2017 geschrieben hat. Sein Eigenruhm (und seine Verkaufszahlen) ermöglichen es inzwischen, dass er sich solche womöglich fruchtlosen Texte buchstäblich leisten kann, weil sie veröffentlicht werden. „Strange Weather“ erscheint hierzulande allerdings nicht mehr im Verlag Heyne, der bisher Vater King und Sohn Hill exklusiv druckte; offenbar hielt man diese Sammlung für nicht erfolgversprechend genug, um sie sich zu sichern. Das ist kein Problem, denn sie erschien trotzdem - gut übersetzt, fest gebunden und schön gestaltet.
Die Nachbarschaft von Wunder und Schrecken
Hill hat wie sein Vater einen gut ausgebildeten Sinn für Trivialitäten, die zum Auslöser bizarrer, unheimlicher oder gewaltreicher Ereignisse werden. Die Idee kann simpel sein: Eine Wolke legt unerwartet Substanz an den Tag oder es regnet Skalpelle. Erst die Umsetzung sorgt für Überraschung und Spannung. Nicht einmal übernatürlich muss es dabei zugehen. „Geladen“ ist eine Geschichte, deren Grauen auf das menschliche Denken und Handeln beschränkt bleibt. Hill verdeutlicht, wieso der (psychisch bzw. moralisch derangierte) Mensch jeden Vampir oder Werwolf in den Schatten stellt.
Inzwischen ist der Amoklauf durch Schulen oder Stadtteile ein globales Phänomen geworden. Überall kann ein Wahnsinn ausbrechen, der aus Frustration und Minderwertigkeitsgefühl geboren wird. Hill fragt sich, wieso dies geschieht und offensichtlich nicht verhindert werden kann. Ob er mit seiner Sicht richtig liegt, muss jede/r Leser/in selbst entscheiden; aus Sicht dieses Rezensenten legt Hill sein Täterprofil ein wenig grobpixelig an, wobei dies aus US-Sicht anders beurteilt werden könnte: Dort sind Waffen so selbstverständlich Teil des Alltags, dass es dem Europäer schwer begreiflich bleibt. Im Rahmen seiner Novelle klingt Hill plausibel - und das Finale überzeugt, weil es wie die Realität konsequent und ausfluchtfrei ohne „happy end“ ist.
Gern lässt Hill Gesellschaftskritik einfließen, wobei er vor allem den Symbolismus oft überstrapaziert oder deutlich weniger geschickt als sein Vater die Erzählung unterbricht, um quasi zu predigen - dies mit guten Argumenten, aber eben allzu ersichtlich. Noch am besten integriert Hill solche Anwandlungen in die Handlung von „Regen“, obwohl er auch hier seinen schriftstellerischen Ehrgeiz mehr als durchscheinen lässt: Musste er sich unbedingt an einer weiblichen/lesbischen Hauptfigur versuchen, die zudem den Namen „Honeysuckle Speck“ - ein automatischer Trigger für die Attacken reaktionärer Spießer und Irrer - trägt?
Einsteins Universum und seine Falten
Hill konfrontiert uns mit absurden Ereignissen, deren Folgen er anschließend ideenreich durchspielt. Sie dienen dabei als Katalysator für ansonsten ‚normalmenschliche‘ Emotionen und Reaktionen, die in der Krise auf die Spitze getrieben bzw. auf die Probe gestellt werden. Sehr an Vater Stephen King erinnert „Schnappschuss“, denn im Zentrum steht nicht nur ein Kind, das mit dem Grauen konfrontiert wird. Michael ist 13 Jahre jung, fett - Hill ist kein Mitglied der „cancel culture“ - und wird gemobbt, was seine Verteidigung gegen den „Polaroid-Mann“ glaubwürdig schwächt. Einfallsreichtum und vor allem der Rückhalt einer beschädigten, aber intakten Familie sorgen für den Ausgleich; eine Konstellation, die Stephen King zur Meisterschaft entwickelt hat.
„Hoch oben“ kann trotz der interessanten Idee nicht mit den übrigen Erzählungen mithalten. Hauptfigur Aubrey Griffin ist kein Sympathieträger, und was die ‚Wolke‘ tatsächlich ist, wird nicht wirklich originell aufgelöst. „Regen“ integriert das unbekannt- unheimliche Fremde besser in den Kontext, obwohl Hill eigentlich nur eine weitere (bereits/allzu „Netflix“-taugliche) Variante der Apokalypse vorlegt.
Hinter Leerlauf und vordergründiger Gesellschaftskritik - hier vor allem in „Geladen“ und „Regen“ - wirkt jedoch stets ein kraftvoller Erzähler, der sein Publikum bei der Stange hält. Der Kurzroman ist offenkundig keine Sackgasse der (populären) Literatur. In der Kürze liegt die Würze: Wieder einmal stellt sich heraus, dass manches Sprichwort mehr als eine Binsenweisheit transportiert.
Fazit:
Vier Kurzromane sammelt dieser Band, wobei die präsentierten Ideen ungeachtet gewisser Schwächen tragen. Spielerisch und spannend werden groteske Einfälle durchgespielt, wobei vor allem jene Texte überzeugen, die im Hier & Jetzt verankert sind. Eine gute Übersetzung und schöne Gestaltung runden den positiven Eindruck ab.
Joe Hill, Festa
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