Kleine Stadt im Krieg der Welten
Derry ist eine kleine Stadt im US-Staat Maine, deren Bewohner schon mehrfach von unerfreulichen bzw. übernatürlichen Ereignissen in Mitleidenschaft gezogen wurden. Zuletzt forderte vor acht Jahren eine gewaltige Überschwemmung viele Opfer; eine Katastrophe, in deren Verlauf dem bösartigen Geschöpf Pennywise der Garaus gemacht wurde.
1994 braut sich neues Unheil über Derry zusammen. Seit dem Tod seiner Gattin leidet der 70-jährige Ralph Roberts unter anhaltender Schlaflosigkeit. Die kostbaren Stunden erholsamer Nachtruhe werden ständig kürzer. Hausmittel und Medikamente schlagen nicht an; Ralph wird ständig hinfälliger, während Traum und Realität sich in seinem benebelten Hirn zu mischen beginnen.
Als er eines Tages "Auren" zu sehen beginnt, zweifelt Ralph an seinem Verstand. Stattdessen hat er die Fähigkeit gewonnen, einen Blick hinter die Kulissen des Universums zu werfen. Ralph vermag die Vielschichtigkeit der Realität zu erkennen - und jene Wesen, die sonst auf Ebenen leben, die dem Menschen verschlossen bleiben.
Hier sind es die "Ärzte", die Ralph in Schrecken versetzen: glatzköpfige, in Kittel gekleidete Männchen, die ihren Opfern buchstäblich den Lebensfaden abschneiden. Zumindest eine dieser Kreaturen nimmt es übel auf, dass Ralph es sehen kann, und droht ihm mit Vergeltung, sollte er ihm ins Handwerk pfuschen.
Dies ist jedoch nur der Nebenschauplatz eines kosmischen Krieges, der von den Bürgern unbemerkt in Derry tobt: Der "Scharlachrote König" will die kosmischen Konstanten zerstören. Dämonisch besessene Menschen verstärken seine Truppen, denen sich Ralph nur mit der Unterstützung seiner ebenfalls ´sehenden' Freundin Lois entgegenstellen muss ...
Epos mit gewaltiger Hintergrundstory
Stephen King gehört zu den Autoren, die es mit steigendem Erfolg nicht mehr nötig haben, sich kurz zu fassen. Den wirklich unbeirrten Fans können seine Romane gar nicht umfangreich genug sein; sie sind süchtig nach jener Mischung aus kundig heraufbeschworener Alltags-Trivialität und einem Horror, der wahrlich grausig daherkommt, wenn der Meister in Form ist.
Zwischen 1982 und 2004 schuf King sein "Opus Magnum" - die "Saga vom Dunklen Turm". Über acht Bände (dem 2012 nachträglich ein neunter eingefügt wurde) und viele tausend Seiten rollte er die Geschichte des Revolvermannes Roland Deschain von Gilead auf, der in einer parallelen Welt zum "Dunklen Turm", der symbolischen Nabe des Universums, reist. Dabei erlebt er nicht nur bizarre Abenteuer. Es verschlägt ihn auch in "unsere" Welt, wie auch umgekehrt Menschen auf Rolands Realitätsebene geraten.
Die "Turm"-Saga ist für sich allein bereits eindrucksvoll genug. Während er sie - mit zum Teil erheblichen zeitlichen Unterbrechungen - schrieb, arbeitete King zusätzlich eigentlich unabhängige Werke ein. Neben dem gemeinsam mit Peter Straub verfassten Roman "Black House" (2001, dt. Das schwarze Haus) bezieht sich vor allem Schlaflos auf die Welt des Turms.
Grandios aber mit übertriebener Ouvertüre
Für King wurde die Erschaffung eines "Multiversums" zu einer nur bedingt glücklichen Idee, wie er nachträglich selbst zugab. Er zählt Schlaflos zu seinen weniger gelungenen Werken und liegt damit grundsätzlich richtig. Mit einigem Abstand legt er den Finger persönlich auf die Primärwunde: Schlaflos erzählt keine harmonische Geschichte. Stattdessen biegt King die Ereignisse des Derry-Handlungsstranges so zurecht, dass sie zu den Geschichten des "Turm"-Paralleluniversums passen - oder passen sollen, denn es funktioniert eher schlecht als recht.
Vielleicht liegt es daran, dass die Kleinstadt Derry ihre eigene King-Historie aufweist. Hier hat der Meister schon viele Strolche meist jenseitigen Ursprungs ihr Unwesen treiben lassen.
"In Derry haben Gegenstände, die in der Kanalisation verschwinden, die - häufig unerfreuliche - Angewohnheit, immer wieder aufzutauchen",
heißt es an einer Stelle. Derry verdient es deshalb nicht, für die "Turm"-Saga verwurstet zu werden.
Schlaflos zerfällt sehr deutlich in zwei Hälften. Die ersten 400 Seiten spielen in Derry und beschreiben, wie Ralph Roberts - ein typischer Durchschnitts-Amerikaner Kingscher Prägung - in eine Situation gerät, die ihn jenseits rationaler Erklärungen erschrickt, fesselt und in Lebensgefahr bringt. Was durchaus interessant sein könnte, verliert seine Kraft, weil Kings es im Schneckentempo schildert. Viele Seiten gehen über Nebensächlich- und Unwichtigkeiten verloren, während die Handlung auf der Stelle tritt. Nachträglich meint der Leser zu merken, wie unschlüssig sich King über die Geschichte war, die er erzählen wollte.
Derry im Bann des Scharlachroten Königs
Die Ereignisse selbst sind durchaus spannend. Hinzu kommt Kings Talent, glaubwürdige Figuren zu zeichnen. Der Scharlachrote König als Strippenzieher im Gebälk des Universums ist und bleibt ein Fremdkörper. Mit dem weniger irrsinnigen als besessenen Ed Deepneau ist King dagegen ein viriler Bösewicht gelungen. Leider verschwindet Deepneau irgendwann aus dem Geschehen und tritt erst im Finale wieder auf: kurz und auf eine reine Nebenfigur reduziert.
Nichts ist erschreckender als die menschliche Bosheit. King arbeitet sich in Schlaflos an dieser Erkenntnis ab. Ein Nebenstrang rankt sich um die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der (legalen) Abtreibung. King lässt zahlreiche Zeitgenossen zu Wort kommen, erörtert die Argumente beider Seiten und übersieht auch die Fehler der vorgeblich liberalen, weltoffenen Partei nicht. Die daraus resultierende Gewalt spielt für das Finale jedoch keinerlei Rolle. Was über Derry hereinbricht, wird aus Wolke 7 gesteuert. Aus Menschen, die im Guten wie im Bösen selbst entscheiden, werden Manipulierte höherer Mächte.
Paradoxerweise nimmt die Handlung selbst nun Fahrt auf. King hat sich endlich entschieden: für fantasylastigen Horror, der Schrecken durch bewährte Genre-Elemente erzeugen will. Selbst ein nicht von der Muse geküsster King ist stets ein fabelhafter Handwerker. Ralph und Lois wandeln zwischen Dimensionen, sie wagen sich in eine unterirdische Troll-Höhle, irgendwann gibt sich der Scharlachrote König selbst die Ehre: Auf dieser Geisterbahn-Ebene funktioniert Schlaflos in der zweiten Romanhälfte ausgezeichnet.
Das Spiel mit dem Schicksal
Weniger erfreulich ist der allzu offensichtliche Hang zum Symbolträchtigen. Die Geschichte von Ralph und Lois besitzt durchaus eigenständiges Potenzial. Doch King gibt sich mit dem bizarren Schrecken allein nicht zufrieden. In Derry tobt nicht weniger als eine der Schlachten, in denen über das Schicksal des Universums entschieden wird, das sich als Multiversum entpuppt.
Also bringt King ein Kind (= Heiland) namens Patrick Danville ins Spiel, das laut einer Prophezeiung dem Scharlachroten König die Tour ins multiversale Chaos vermasseln wird. Anders als der biblische Herodes kann unser böser König diesen Herausforderer nicht direkt töten. Deshalb wird Ed Deepneau der Status eines Vollstreckers zugewiesen, der den schmutzigen Job übernehmen kann - ein sehr umständliches Verfahren, das leicht als Instrument künstlicher Dramatisierung erkannt wird.
King nennt Schlaflos einen Roman, der mit einer eigenen Geschichte begann, um irgendwann in den Sog der "Turm"-Saga zu geraten. Er fand nicht die Kraft, diesen Kurswechsel zu unterbinden. Das Ergebnis ist ein Roman, der zwar zu den umfangreichsten gehört, die King - ohnehin kein Freund des kurzen Wortes - eher fabrizierte als schrieb, aber trotzdem Stückwerk bleibt - im Detail spannend, gruselig und sogar eindrucksvoll, doch insgesamt aus dem Lot.
Stephen King, -
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