Der lange Nachmittag der Erde (Meisterwerke der Science-Fiction)
- Heyne
- Erschienen: Februar 2021
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Zwischen Evolution und Devolution
Abermillionen Jahre in der Zukunft: Die Erde dreht sich nicht mehr. Während die Schattenseite zu einem finsteren Reich des Unbekannten geworden ist, haben auf der Sonnenseite die Pflanzen die Herrschaft über den Planeten übernommen. Ein gewaltiger Banyan-Baum, der sich über den gesamten Kontinent erstreckt, bildet einen Dschungel, in dem es von furchterregender Fauna nur so wimmelt.
Lily-Yo führt eine kleine Menschengruppe an, die diesen Dschungel ihr Zuhause nennt. Doch nun fühlt sie ihre Zeit gekommen: Die Jüngeren müssen eine eigene Gruppe bilden, während die Älteren in den Himmel aufsteigen werden. Dies gelingt ihnen, wie es die Tradition verlangt, als blinde Passagiere an Bord eines Querers – gigantische, spinnenähnliche Pflanzenwesen, die schon vor Urzeiten ins All expandiert sind und auf einem Netz von Fäden, die sie gesponnen und damit den Mond nah an die Erde herangerückt haben, zwischen dem (sehr) grünen Planeten und seinem Trabanten hin- und herreisen. Was Lili-Yo und die anderen Älteren vorfinden, ist jedoch nicht das Nachleben, das sie erwartet haben …
Gleichzeitig geht es für Gren, einen der Jüngeren, und den Rest der Gruppe ums blanke Überleben. Sie begegnen nicht nur feindlicher Vegetation im Übermaß, sondern auch anderen Menschenarten. Gren lernt sogar eine Gefährtin namens Yattmur kennen, die sich ihm anschließt. Alles wird jedoch anders, als die Morchel ins Spiel kommt: Der uralte, intelligente Pilz ergreift von Gren Besitz und zapft das in ihm vergrabene, kollektive Bewusstsein der Menschheit an. Die Morchel macht es sich zum Ziel, sich mithilfe der Menschlein auszubreiten und die Geheimnisse des Seins zu ergründen – eine Forschungsreise in Vergangenheit und Zukunft beginnt …
„Für Verstand war hier kein Raum mehr. Für Wachstum, für Pflanzen war Raum.“
Der Originaltitel ist Programm: In Hothouse (zu Deutsch: „Treibhaus“) ist die eine Seite der Erde auf ewig der Sonne zugewandt, die sich mehr und mehr in Richtung Supernova entwickelt (auf diesen „langen Nachmittag“ dürfte für den Planeten in absehbarer Zeit der Lebensabend folgen). Die Sonnenseite der Welt hat sich so in ein überdimensioniertes Gewächshaus verwandelt, das die wildesten Blüten treibt (in Zeiten des Klimawandels nicht unbedingt die schlechteste Zukunftsvision). Ursprünglich wurde Hothouse 1961 als Fortsetzungsroman im Magazine of Fantasy & Science Fiction veröffentlicht – und leider merkt man der Romanversion diese Serienqualität an. Der anfängliche Handlungsstrang teilt sich früh auf, die Wiederzusammenführung (nebst cleverem Schluss) lässt allerdings auf sich warten. Das Abenteuer dazwischen hat eher episodenhaften Charakter und haut der Leserschaft eine Actionsequenz nach der anderen um die Ohren. Der Stil liest sich zwar angenehm flüssig, präzise und lebendig (es verwundert überhaupt nicht, dass Autor Brian W. Aldiss sich als eine der Größen der britischen Sci/Fi-Literatur etablieren konnte; er versteht sein Handwerk), und die für die unzähligen pflanzlichen Fressfeinde (welche sich schon vor langer Zeit gegenüber dem tierischen Leben als dominant behauptet und dieses verdrängt haben) erdachten Neologismen funktionieren sogar in der gekonnten Neuübersetzung von Frank Böhmert gut – dennoch gestalten sich Figurenkonstellation und Plotstruktur holprig.
„Der Tag kommt, an dem alle Kreaturen ins immergrüne Universum aufgehen.“
Dem Lesespaß tut das aber kaum einen Abbruch. Wie es sich für gute Science-Fiction gehört, ist der Prämisse bzw. dem zentralen Konzept alles andere unterzuordnen. Und zum Glück hat Aldiss diesbezüglich die ganze Bandbreite seiner Fantasie genutzt und genüsslich alle Register gezogen. Das epische World-Building weckt teilweise fast Anklänge an Horror-Großmeister Lovecraft und zieht einen beim Lesen so in seinen Bann, dass der Roman allein über diese Ebene sein Potenzial entfalten kann und man nichts vermisst. Besonders im letzten Drittel, in dem die Story komplexer wird und verborgenes Potenzial auch inhaltlich eine Rolle spielt, lässt man sich gerne von der Erzählung tragen und einfach auf einen kurzweiligen, aber auch sehr klug durchdachten Trip mitnehmen. Denn gänzlich ohne Tiefgang ist das Werk nicht: Gerade gegen Ende streut Aldiss faszinierende Gedanken über Menschheit, Natur, Erde, Kosmos sowie deren komplexe Verhältnisse zueinander ein. Besonders die Schilderung von Leben und Sterben, Vergehen und Neubeginn – den unaufhaltsamen kosmischen Kreisläufen, deren Kräfte so weit über uns hinausgehen – ist sehr gelungen. So ist die Geschichte letztendlich vor allem eine Mahnung, dass wir Menschen uns selbst vielleicht nicht so wichtig nehmen sollten.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen sowohl Aldiss‘ Nachwort (geschrieben fast 50 Jahre nach der Erstveröffentlichung!), in welchem der Autor kurz seine Inspirationsquellen erläutert, als auch die Vorbemerkung von Neil Gaiman, die fast als eine Art Lektüreschlüssel fungieren kann.
Fazit:
Der lange Nachmittag der Erde ist einfallsreiche Sci/Fi-Kost für Genre-Puristen, die – trotz einiger Schwächen – die Bezeichnung „Meisterwerk der Science-Ficion“ durchaus verdient!
Brian W. Aldiss, Heyne
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