Westlake Soul - Im Griff des Todes

  • Buchheim Verlag
  • Erschienen: August 2020
  • 0
Westlake Soul - Im Griff des Todes
Westlake Soul - Im Griff des Todes
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Marcel Scharrenbroich
100°1001

Phantastik-Couch Rezension vonSep 2020

Lord of the Board

Wipe Out *

Westlake Soul ist ein Sonnyboy aus der kanadischen Provinz Ontario. Der 23-jährige ist ehemaliger Surf-Champion und kann einige Erfolge vorweisen. Das Wellenreiten auf dem Brett war sein Leben. Das endlose Blau, die brechenden Wellen, der salzige Geruch… im Wasser war Westlake in seinem Element. War… Heute wirkt diese unbeschwerte, freie Zeit, als würde sie zum Leben eines Anderen gehören. Das Gefühl, wenn die Rails des Boards durchs Nass schneiden und die aufgepeitschten Wassertropfen wie Nadelstiche auf der angespannten Haut einschlagen… alles Vergangenheit. Die Freiheit ist gegangen. Mit einem Schlag weggespült. Trophäen, Fotografien und die Farbe der Decke, die mit ein wenig Fantasie noch entfernt an die Weiten des Ozeans erinnert, sind die einzigen Reliquien in seinem Zimmer, die noch das „Davor“ wiederspiegeln. Das „Danach“, das „Jetzt“, ist das genaue Gegenteil von Freiheit. Dafür sorgte ein tragischer Surf-Unfall. Über einen Monat lag Westlake im Koma… dann schlug er die Augen auf. Das war aber auch der einzige Unterschied zu den vorherigen Wochen. Wach und dennoch gefangen. Unfähig zu sprechen, zu reagieren, geschweige denn zu laufen. Wach… und so weit entfernt von der Realität. Wachkoma.

Ein Gehirn, wie ein fauler Apfel… so bezeichnete es Westlakes behandelnder Arzt gegenüber seinen besorgten Eltern. Körperlich anfällig für jede Art von Infektion, geschwächt, nicht fähig für einen Kampf, den er selbst mit Gegenwehr jederzeit verlieren könnte. Nach Monaten im Krankenhaus entschieden seine Eltern sich für die häusliche Pflege. Er sollte zumindest körperlich in einem gewohnten Umfeld sein. Bei seiner jüngeren Schwester… und bei seinem treuen Hund Hub. Ein wenig Normalität, die nun wohl weniger Westlake als seiner Familie Trost spendet. Ein paar Ausflüge mit dem Rollstuhl in den Garten. Dem Abwesenden ein wenig Gesellschaft bieten, ihn ungefragt zum Puzzleteil eines Ganzen machen, obwohl dessen Ecken vorne und hinten nicht passen… vielmehr scheint dieses Stück zu einem gänzlich anderen Bild zu gehören. Wasser auf seine stillstehenden Mühlen. Wenigstens gibt ihnen das ein gutes Gefühl. Nimmt ihnen das Unbehagen, falls sich ihre Mundwinkel doch mal nach oben ziehen und Familie Soul zur Abwechslung ein paar Sonnenstrahlen durch die dunkle Wolkendecke, die sich mit einem Schicksals-Donner über ihren Leben ausbreitete, zulässt.

Nadia, Westlakes große Liebe, besuchte ihn zweimal. Beim ersten Mal, um ihrem Freund Mut zuzusprechen. Ihm zu sagen, dass er aufwachen soll. Zurückkehren zu ihr. Sie spielte ihm Musik vor… IHRE Musik. Klänge, die ihn an schöne Zeiten erinnern sollten. And das „Davor“. Wachrütteln. Ihn befreien. Ihm den Weg aus der Dunkelheit zeigen. „Folge der Stimme, Westlake. Folge der Musik.“ Doch er hörte nicht auf sie und irrte weiter blind durchs Nichts. Der zweite Besuch war weniger hoffnungsvoll. Eine neue Frisur, Kälte in Nadias Gesicht. Distanziert, kein gutes Zeichen. Alles an ihr schrie Abschied. Und das tat sie auch… sie verabschiedete sich. Konnte es nicht mehr ertragen, ihn so zu sehen. Teilnahmslos, leblos, ausgezehrt und… schwach…

Take Off **

Doch Westlake Soul war nicht schwach. Er war ein Kämpfer. Er IST ein Kämpfer. Und ebenso ist er sich seiner Situation bestens bewusst. Sein Geist ist geschärfter als „Davor“. Seine Intelligenz übersteigt den messbaren Bereich um ein x-faches. Er sieht sich, sieht Nadia, Hub, seine Familie, sieht alles um sich herum. Er kann in die Köpfe seiner Mitmenschen eindringen, in ihren Gedanken und Gefühlen lesen wie in einem offenen Buch. Seinen Geist an jeden beliebigen Ort der Welt projizieren. Sowohl durch die geliebten Wellen gleiten, als auch in luftigen Höhen schweben. Dabei liebt er es, amüsante Gespräche mit seinem besten und treusten Freund Hub zu führen. Interessant, was so im Kopf eines Schnauzer/Pudel-Mischlings vorgeht. Eine gelungene Abwechslung zu Westlakes anderen kräftezehrenden Unternehmungen…

Vergeblich versucht er, irgendwie die Kraft über seinen Körper wiederzuerlangen. Diesen wieder mit seinem Geist zu vereinen. Als zerre er an einer Tür, zu der er den Schlüssel verloren hat. Ausgesperrt von wohliger Wärme, während er in eisiger Kälte ausharrt. Das unbedingte WOLLEN, aber nicht KÖNNEN. Auf gewisse Weise einsichtig, abgeklärt, aber niemals hoffnungslos. Dabei muss Westlake die größte Kraft für einen Kampf aufbringen, der niemals zu enden scheint. Jedenfalls nicht, falls es ihm nicht gelingt, die schier undurchdringliche Tür zu öffnen. Sein Arzt lag falsch. Gehirn wie ein fauler Apfel… am Arsch! Könnte ein fauliger Apfel scheinbar kluge Köpfe wie Einstein und Hawking wie notorische Schulschwänzer mit Lernschwäche aussehen lassen? Wohl nicht. Und Westlake muss all seine verfügbaren Sinne beisammenhalten, um vor den wiederkehrenden Angriffen von Dr. Quietus gewappnet zu sein. Dieser gewinnt nämlich zunehmend an Stärke. Kann hinter jeder Ecke lauern. Stets damit drohend, Westlake endgültig in den Abgrund zu reißen. Ihn mit unendlicher Schwärze zu überziehen und es ein für allemal zu beenden. Bisher gelang es Westlake Soul, den Todes-Dämon auf Abstand zu halten. Doch wie vielen heimtückischen Attacken kann er noch ausweichen? Was passiert, wenn Dr. Quietus ihm Auge in Auge gegenübersteht? Die Uhr tickt… denn trotz unmenschlicher Genialität hat der smarte Surfer, der alles geben würde, um wieder auf sein Board zu steigen, den Scharfsinn für das Offensichtliche verloren. Die Anzeichen sind da… direkt vor ihm… tick… tack… tick… tack…

Shaper ***

Die klassischen Bestandteile einer Superhelden-Story sind vorhanden: Ein Held, ein Superschurke und ein unausweichlicher Konflikt. Aber reicht das schon? Für ein kunterbuntes Mainstream-Feuerwerk vielleicht. Für einen launigen Filmabend mit krachender Bombast-Action à la Hollywood bestimmt. Womöglich auch für einen Zielgruppen-orientierten Roman. Aber nicht für „Westlake Soul“, denn dieses Buch ist so viel mehr!

Was Autor Rio Youers hier niedergeschrieben hat, gleicht einem poetischen Wasserfall. Tosend, kraftvoll und von einer seltsam beruhigenden Schönheit, die Dich, einmal entfesselt, jedoch wie eine gigantische Welle überrollen könnte. Er geht wunderbar tiefsinnig mit Worten um, lenkt sie ungeschönt ins Gefühlszentrum, wo sie mal federleicht, mal mit bleierner Schwere verbleiben. Westlake, der direkt mit den Leserinnen und Lesern spricht, redet nicht um den heißen Brei. Er spricht Klartext. Erzählt von seinem scheinbar aussichtslosen Kampf gegen Windmühlen, gegen die Sturheit seines losgelösten Körpers, gegen den drohenden Tod… gegen Dr. Quietus. Aber auch von seinen Träumen, seinen Wünschen und seiner verlorenen Liebe. Das ist herzzerreißend, brutal ehrlich und an den richtigen Stellen auflockernd und Mut machend.

Wenn ich mir mit einem Roman die Nächte um die Ohren schlage, ihn nicht weglegen möchte, obwohl die Müdigkeit bei drohendem Sonnenaufgang lachend am längeren Hebel sitzt, ich den Roman immer in Griff- oder zumindest Sichtweite wissen möchte, bis ich ihn ausgelesen habe, muss der Inhalt schon eine enorme Anziehungskraft ausstrahlen. Tatsächlich liest man solch ein Werk selbst als Vielleser nicht oft. Es wirkt so leichtfüßig, wie Rio Youers mit einem solch bedrückenden Thema wie Wachkoma umgeht, dass er sich scheinbar akribisch mit der Thematik beschäftigt hat. Bei der Beschreibung von Westlakes Zustand und den erforderlichen Maßnahmen inklusive Begleiterscheinungen legt sich einem ein Felsbrocken auf den Brustkorb, während die Wände immer näher zu kommen scheinen. Und kurz bevor Dir die Luft entweicht, der Raum Dich erdrückt, sprengt Youers Felsen und Wände einfach weg und entführt Dich in grenzenlose Freiheit. Die Wellen rauschen, die Sonne lässt Dich die Augen zusammenkneifen und Du spürst den umschmeichelnden Wind, der Dich mit Westlake Soul in die Höhe zieht. Keine emotionale Achterbahnfahrt… Denkt größer! Ein sprachgewaltiges, gefühlvoll-brillantes Erdbeben.

Leash ****

Mit dem Buchheim Verlag hat Rio Youers Werk, welches ursprünglich schon 2012 veröffentlicht wurde, auch für den deutschsprachigen Markt ein perfektes Heim gefunden. Man merkt dem hochwertigen Hardcover in allen Belangen an, dass man beim Verlag von der inhaltlichen Qualität überzeugt war. Das Buch ist rundherum mit Spotlack-Elementen versehen und die Seiten sind angenehm dick. Dabei ist die deutsche Übersetzung von Claudia Rapp ebenfalls hervorragend gelungen. So wird Westlake keine künstlich aufgeblähte Jugendsprache in den Mund gelegt, sondern stets der richtige (und auch mal zotige) Ton getroffen.

Rio Youers, der nach zahlreichen Kurzgeschichten und Novellen die Romane „Everdead“ und „End Times“ herausbrachte, schrieb nach „Westlake Soul“ die Bücher „Point Hollow“, „The Forgotten Girl“ und „Halcyon“. Außerdem adaptierte er Stephen und Owen Kings „Sleeping Beauties“ erfolgreich als Comic für IDW, bevor 2021 mit „Lola on Fire“ sein neuster Thriller erscheint. Gemessen an der Qualität von „Westlake Soul“ wäre es wünschenswert, wenn weitere Titel von Youers für den hiesigen Markt veröffentlicht würden. Dafür würde ich auch jegliche Genre-Grenzen überschreiten und gerne außerhalb der Komfort-Zone surfen.

Fazit:

Dieses Buch wird Euch mitnehmen. Mitnehmen auf eine außergewöhnliche Reise. Mitnehmen in die Gedankenwelt eines Wachkoma-Patienten. Aber vor allem wird es Euch emotional mitnehmen… und für lange Zeit nicht mehr loslassen. Es ist tieftraurig, beklemmend, humorvoll, dramatisch, packend, phantastisch und lebensbejahend… kurzum: Perfekt.

 

* Spektakulärer Sturz, bei dem es den Surfer vom Brett reißt
** Bewegungsablauf, um von der liegenden Position in den Stand zu kommen
*** Bauer von Surfboards, die Bretter auf die Maße und Fähigkeiten der Surfer anfertigen
**** Verbindungsleine zwischen Surfer und Board

Westlake Soul - Im Griff des Todes

Rio Youers, Buchheim Verlag

Westlake Soul - Im Griff des Todes

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