3.000.000 Zimmer, Küche, Bad
„Um die Einsamkeit ist’s eine schöne Sache, wenn man mit sich selbst in Frieden lebt und was Bestimmtes zu tun hat.“
-Johann Wolfgang von Goethe (1749 – 1832)
Unzählige beeindruckende Vestibüle, tausende detaillierte Statuen, drei Etagen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Unten tritt regelmäßig die Flut ein, die das gesamte Stockwerk umspült. Ganz oben herrschen die Wolken und prasselnder Regen sorgt für frisches Trinkwasser. Die Mitte hingegen erstreckt sich in ungeahnte Weiten. Raum an Raum, Durchgang an Durchgang. Was ist es? Ein Haus? Ein Labyrinth? Ein Gefängnis? Ja, all das. Und für Piranesi ist es noch viel mehr. Für ihn ist es eine ganze Welt. Seine Welt.
Und in dieser Welt sind Piranesi nur fünfzehn Menschen bekannt. Einer davon ist er selbst. Von dreizehn sind nur noch die sterblichen Überreste übrig. Dann wäre da noch Der Andere. Mit ihm trifft Piranesi sich zweimal in der Woche. Um neue Erkenntnisse auszutauschen und um Geheimnisse zu lüften. Geheimnisse über Das Haus, wie Piranesi diese mystische Welt aus Gemäuern und Statuen nennt, und dem, was sich jenseits des gigantischen Komplexes befindet. Der Andere, ein älterer, eleganter Mann, gibt sich gerne geheimnisvoll und teilt offensichtlich nicht jede neue Erfahrung mit seinem vermeintlichen Leidensgenossen, arbeitet er doch an einem scheinbar wichtigen Experiment. Akribisch schreibt Piranesi derweil jedes Detail in seine Tagebücher und versorgt den einzig ihm bekannten Menschen mit neuen Informationen. Zur besseren Orientierung hat er sogar eine eigene Methode zur zeitlichen Bestimmung eingeführt. Im Gegensatz zu Dem Anderen, der das Labyrinth offenkundig nicht erkundet, untersucht Piranesi jeden Raum und kennt sich im Rahmen seiner Möglichkeiten bestens im Haus aus. Offensichtlich mangelt es ihm an nichts. Selbst die Einsamkeit scheint er problemlos zu verkraften, fühlt er sich in der Leere des Hauses und inmitten der lebensechten Statuen, die scheinbar einer entfernten Welt entsprungen sind, sehr wohl. Erste Zweifel kommen Piranesi, als er unerklärliche Abweichungen in der Nummerierung seiner Tagebücher findet. Hinzu kommt, dass scheinbar eine noch unbekannte sechzehnte Person im Labyrinth des Hauses umhergeht. Eine Person, vor der Der Andere Piranesi eindringlich warnt.
Lockdown-Lektüre?
Um Gottes Willen, NEIN! Obwohl es in „Piranesi“ weitestgehend um Isolation und Abgeschnittenheit in einer ganz eigenen Welt geht, sollten potentielle Leserinnen und Leser nicht den Eindruck bekommen, dass es sich hier um einen weiteren Schritt in den Lockdown-Blues handelt. Ich persönlich empfand es sogar als sehr angenehm und irgendwie auch inspirierend, mit dem Hauptcharakter durch sein „Gefängnis“ zu wandern und mit ihm auf Entdeckungsreise zu gehen. In Tagebuch-Form an seinen Erlebnissen teilzuhaben. Nachzuvollziehen, wie er mit der Isolation umgeht und seinen vermeintlich eintönigen Alltag meistert. Angewohnheiten, akribisches Niederschreiben von Entdeckungen. Auch der respektvolle Umgang mit Toten, von denen nur noch knochige Überreste in den verlassenen Sälen dieser ungewöhnlichen Welt existieren. Da hat der über weite Zeit namenlose Charakter nämlich seine ganz eigenen Rituale und Gedankengänge, was deren Herkunft betrifft. Namenlos ist er übrigens deshalb, weil er sich nicht mehr an seinen Namen erinnern kann und nur auf Piranesi hört, weil Der Andere ihm diesen Namen gab. Mit der Zeit hat er sich damit arrangiert, obwohl er nicht weiß, ob Der Andere diesen Namen ihm gegenüber despektierlich verwendet.
Abgeleitet ist dieser Name von Giovanni Battista Piranesi (1720 – 1778), dem visionären italienischen Künstler und Architekten. Besondere Aufmerksamkeit erlangte dieser durch seine mehrteilige Radierfolge Carceri d'Invenzione di G. Battista Piranesi, bei der er auf besonders fantasievolle Weise altertümliche Kerker darstellte und zu diesem Zweck sein architektonisches Wissen mit düster-beunruhigender Kunstfertigkeit vermischte. So entstanden phantastische, ineinander verschachtelte Gebilde, die sich über physikalische Grenzen hinwegzusetzen schienen und sowohl die Architektur- als auch die Kunst-Szene nachhaltig beeinflussten. Labyrinthische Albträume, die ihrer Zeit voraus waren und auf beklemmende Weise Isolation an unwirtlichen Orten verdeutlichte. Nicht die einzigen wegweisenden Arbeiten von Giovanni Battista Piranesi, der für sein Gesamtwerk sogar im Jahr 1767 von Papst Clemens XIII. zum Ritter geschlagen wurde.
„Nach dem Bestseller“ ist „Vor dem Geheimtipp“
Ja, den bei BLESSING veröffentlichen Roman würde ich definitiv als Geheimtipp bezeichnen, da sich „Piranesi“ einerseits schwer in eine Schublade und somit in eine Genre-Richtung quetschen lässt, und sich auf der anderen Seite gänzlich vom viel beachteten „Jonathan Strange & Mr. Norrell“ (HEYNE), dem mit Lob überschütteten Erstlingswerk von Susanna Clarke aus dem Jahr 2004, unterscheidet. War das Romandebüt der englischen Autorin noch in einer Alternativ-Welt des frühen 19. Jahrhunderts angelegt, in der Magie eine wichtige Rolle spielte, ist „Piranesi“ ein philosophischer Mix, der zum Nachdenken anregt. Dabei ist besonders der Schreibstil zu loben, denn der Hauptcharakter hat seine ganz eigene Art der Mitteilung. Es ist durchaus spannend, Piranesis Gedankengänge nachzuverfolgen… und irgendwann ertappt man sich sogar dabei, dass man seine Ansichten irgendwie nachvollziehen kann.
Fans von Susanna Clarkes preisgekröntem Erstling „Jonathan Strange & Mr. Norrell“, der sogar schon 2015 in einer siebenteiligen Mini-Serie von der BBC fürs TV verfilmt wurde (als Blu-ray & DVD bei CONCORDE erschienen oder via AMAZON prime abrufbar), werden mit Sicherheit schon seit Jahren auf eine weitere Geschichte aus dem fiktiven England warten, was sich in absehbarer Zeit leider auch nicht ändern wird. Tatsächlich werkelt Susanna Clarke schon seit Jahren an einer Fortsetzung, wurde aber durch eine Krankheit aus der Bahn geworfen. Im Frühjahr 2005 erlitt sie einen Zusammenbruch und es wurde ein chronisches Erschöpfungssyndrom diagnostiziert. Das Schreiben wurde für sie zur Qual und viele begonnene Projekte verliefen im Sand. Mit „Piranesi“, einer charakterlich überschaubaren, inhaltlich nicht ausufernden („Jonathan Strange & Mr. Norrell“ brachte es auf über 1.000 Seiten) und im Grunde sehr intimen Geschichte, meldet sie sich aber eindrucksvoll zurück.
Fazit:
„Piranesi“ von Susanna Clarke entwickelt mit jeder Seite einen größeren Sog. Fast wirkt Das Haus mit seinen unzähligen Räumen wie ein gigantischer Zauberwürfel, der mit jedem Dreh, mit jedem Saal, ein deutlicheres Muster in Richtung Auflösung offenbart. Zwar zeichnet sich eine Rollenverteilung schon früh ab, was jedoch nicht die interessante und ebenso spannende Erzählweise abschwächt.
Susanna Clarke, Blessing
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