Eines Menschen Flügel
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: September 2020
- 8
Zu den Sternen
Das Erbe der Ahnen
Ein Schleier umhüllt die Welt. Ihre Welt. Irgendwann. Irgendwo. Das Licht der Sonne dringt durch die nebelige Schicht, erhellt ihre Welt, ohne jedoch freie Sicht auf den strahlenden Stern zu offenbaren. Hinter dieser schier undurchdringlichen Schicht liegen die Sterne, gewiss. Doch gesehen hat sie bisher niemand, da eines Menschen Flügel es nicht vermögen, dorthin zu reisen. Einst kamen die Ahnen von dort. Von den Sternen. Landeten in einem gigantischen Luftschiff auf der ihnen fremden Welt. Die Ahnen schrieben ihre Geschichte in Büchern auf... die Großen Bücher. Seit Jahrtausenden dienen diese den Völkern, um ihre Herkunft zu verstehen. Als Grundlage ihres Daseins. Ein Leitfaden des Zusammenlebens. Die Ahnen waren es auch, die den Menschen einst Flügel verliehen. Die brauchen sie, denn auf festem Grund lauert der Tod. Dort herrscht der Margor. Unter der Oberfläche lauert er nur darauf, dass Unvorsichtige sich in sein Territorium begeben, um gnadenlos und sekundenschnell zuzuschlagen. Das lernen schon die Jüngsten und so kam es, dass die Menschen sich vor Jahrtausenden in die Bäume zurückzogen. Keine Bäume wie wir sie kennen. Riesenbäume, in denen die Menschen ihre Nester errichteten. Die wenigen Stellen, an denen der Margor nicht zuschlägt, sind den Menschen bekannt. Sonstiger Kontakt mit dem Boden wird tunlichst vermieden. Über den Kontinent verteilt haben im Laufe der Zeit viele Völker ihre Nester aufgeschlagen. Friedliebende Völker, die keine Kriege miteinander führen. Für uns kaum vorstellbar, doch ein Zusammenleben funktioniert. Mehr noch, unterstützen diese Völker sich auch gegenseitig. Treiben Handel. Tauschen Neuigkeiten und Wissenswertes aus. Und heißen Besucher stets willkommen und freuen sich über die Abwechslung. Alle Menschen ziehen an einem Strang in dieser paradiesischen Welt, in der Technologie ein Fremdwort ist. Ein Verbot der Ahnen. Daran halten sich die Menschen. Ihnen mangelt es an nichts, jedoch gibt es unter ihnen auch Freigeister. Freigeister, die Fragen stellen. Neugierig auf das sind, was ihnen verborgen bleibt. Einer von ihnen ist Owen.
Hoch hinaus
Owen, der Signalmacher vom Volk der Ris, war in seiner Kindheit kein guter Flieger. Im Gegenteil. Doch der Himmel hatte eine magische Anziehungskraft auf ihn. Der Gedanke von dem, was hinter der Wolkendecke lag, faszinierte ihn mehr und mehr. Die Sterne, von denen die Ahnen einst kamen. Diese einmal mit eigenen Augen zu sehen, zu berühren, ungeahnte Freiheit zu spüren. Dieser Gedanke spornte Owen an. Er trainierte und verbesserte seine Flugkünste. Stück für Stück, Flügelschlag um Flügelschlag wurde er kräftiger und ausdauernder. Und als er erwachsen wurde, und sich seiner großen Liebe Eiris, der Tochter des Signalmachers der Ris, versprach, hielt er dank ihrem Zuspruch an seinem Traum fest. Er nahm sich die gigantischen Pfeilfalken zum Vorbild. Jene Geschöpfe, deren Genmaterial die Ahnen vor unzähligen Jahren mit dem der Menschen kreuzten, um ihnen Flügel zu verleihen. Owen studierte sie, schaute sich ihre Techniken ab, um seinen Flug zum angeblich undurchdringlichen Himmel zu perfektionieren. Da er zu dieser Zeit bei Eiris‘ Vater in die Lehre ging, um die Kunst des Signalmachens zu erlernen, kam ihm die Idee, eine dieser Signalraketen zu nutzen. Damit, so dachte er, könnte er die Wolkendecke durchstoßen. Ein waghalsiges Unterfangen, doch es gelang. Owen sah die Sterne. Vollbrachte das Undenkbare. Doch zu welchem Preis?
Am Ziel seiner kühnsten Träume verlor er das Bewusstsein und stürzte ungebremst in die Tiefe. Eiris, schon ganz krank vor Sorge, rechnete bereits mit dem Schlimmsten, doch ihr Mann überlebte. Umherziehende Nestlose fanden Owen schwer verletzt nahe einer Insel. Von ihrer Mutter erfuhr Eiris von einem sogenannten Kräutermann, der abgeschieden auf dem Kontinent lebte, und für den Verletzten wohl die einzige Rettung sein sollte. Und so war es. Der Kräutermann hatte die rettende Medizin… jedoch nicht umsonst. Außerdem gab er Eiris noch eine Warnung mit auf den Weg. Owen dürfe niemals davon erzählen, wie er den Himmel durchstieß und zu den Sternen flog. Großes Unheil würde über ihn kommen. Der genesende Owen versprach es seiner Frau.
Jahre waren seitdem vergangen. Owen war mittlerweile der neue Signalmacher der Ris und Eiris gebar zwei Kinder. Oris und seine jüngere Schwester Anaris. Das Leben ging weiter und Owen konnte sein Versprechen halten. Bis zu dem Tag, als Hekwen, der Älteste des Wen-Volkes, dorthin ging, wohin eines Menschen Flügel ihn nicht zu tragen vermochten. Auf der Totentrauerfeier versammelten sich viele Nester, um Abschied zu nehmen. Viele trauerten still, andere richteten ein paar letzte Worte an den Verblichenen. So auch Owen, der Hekwen schon sein ganzes Leben lang kannte. Und so berichtete er dem alten Freund von dem, was er vollbrachte. Dass er die Sterne sah. Die, von denen sie einst kamen, und die, davon war Owen überzeugt, zu denen sie auch irgendwann zurückkehren würden. Und er berichtete es nicht nur dem Toten, sondern auch allen Lebenden. Mit einer Glaubwürdigkeit, dass die schockierende Nachricht schnell auf dem gesamten Kontinent die Runde machte. Damit brachte Owen eine Lawine ins Rollen, die er selbst nicht mehr aufhalten konnte. Eine Lawine, die nicht nur ihn, sondern auch seinen Sohn Oris überrollen sollte…
…und damit den Auftakt einer epischen Geschichte markiert. Denn hier beginnt eine grenzensprengende Reise, die aufzeigt, wohin eines Menschen Flügel ihn tragen können. Wenn Blut dicker ist als Wasser, die Vergangenheit die Gegenwart einholt und die Zukunft ein gänzlich neues Kapitel aufschlägt.
Die Großen Bücher
Wie bereits angesprochen, schrieben die Ahnen, die von den Sternen kamen und den Menschen die Flügel gaben, ihre Geschichte in verschiedenen Büchern nieder. Und wenn wir von Großen Büchern reden, reihe ich „Eines Menschen Flügel“ sofort dort ein. Andreas Eschbach hat mit diesem Roman einen Brocken abgeliefert, der diese Bezeichnung nicht nur anhand seines Umfangs verdient. Ganze 1.257 Seiten umfasst seine unglaublich intensive Saga, die nicht nur erzählerische Grenzen sprengt, sondern auch die Genres Fantasy und Science-Fiction derart geschickt kreuzt, als wären diese generell unweigerlich miteinander verbunden. Er beschreibt diese ferne, fremde Welt, von der wir nicht wissen wo und wann sie existiert, mit einer Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, dass sie nach wenigen Kapiteln bereits vertraut erscheint. Menschen mit Flügeln, das Leben in Nestern, die Gefahr auf der Oberfläche… das alles erscheint plötzlich glaubwürdig und unglaublich nah. Vielleicht auch, weil die geflügelten Menschen uns sehr ähnlich sind. Sie arbeiten, leben und lieben. Gründen Familien und sorgen füreinander. Die Teenager flirten, was das Zeug hält, schlagen sich in die Büsche, um zu knutschen und zu fummeln. Was uns in der Jugend das Kino war, ist den dortigen Kids der Strauch um die Ecke. Für die soziale Komponente nimmt Andreas Eschbach sich auch ungemein viel Zeit. Überraschenderweise werden diese Beziehungs-Irrungen und -Wirrungen auch nicht langweilig oder erscheinen wie unnützes Beiwerk, das die Story streckt. Nein, denn „Eines Menschen Flügel“ ist viel mehr als die Erfüllung eines Menschheitstraums - der, zu den Sternen zu reisen, oder zu fliegen -, sondern ebenso eine Geschichte über das Erwachsenwerden. Noch mehr, eine Geschichte über Freundschaft, Verlust, Gerechtigkeit. Über Mut, Übermut, Rache. Nehmt all das und packt noch mehr obendrauf. Keine Seite erscheint als schmückendes Beiwerk. Die detaillierte Beschreibung von Flora und Fauna saugt einen als Leser ins Geschehen. Sitten und Bräuche werden nachvollziehbar erklärt. Genau durchdacht und vollster Überzeugung zu Papier gebracht. Wahrlich ein Großes Buch.
Vogelperspektive
Direkt nach dem Aufklappen des gebundenen Buches blickt man auf eine Landkarte des Kartenzeichners Markosul. Ungeheuer hilfreich, wenn es die Reisenden mal wieder an einen anderen Ort der ihnen bekannten Welt verschlägt. Allein daran sieht man, dass der Autor sich viele Gedanken zu diesem ganz neuen Lebensbereich der modifizierten Menschen einer undefinierbaren Zukunft gemacht hat. So durchdacht, wie diese seit Ewigkeiten beheimatete Welt wirkt, erscheint auch die Erzählweise von Andreas Eschbach. Insgesamt in drei Teile unterteilt, werden die umfassenden Kapitel, welche jeweils noch aus eigenen Unterkapiteln bestehen, jeweils aus der Sicht eines anderen Charakters erzählt. Das klingt komplizierter als es ist, denn obwohl sich einige Begebenheiten kreuzen und aus anderen Blickwinkeln dargestellt werden, bleibt die Geschichte kontinuierlich in Bewegung. Mal werden vergangene Ereignisse aufgegriffen und kurz erwähnt, mal wird tiefer auf bereits Erzähltes eingegangen. So kommen auch beiläufig erwähnte Charaktere zum Zuge, die einerseits ihre Sicht der Dinge schildern, aber auch eine ganz eigene Story liefern. Daraus ergibt sich eine unglaubliche Fülle an Namen, die den Leser aber nur selten überfordern. Ich war positiv überrascht und sehr begeistert, wie man so bei der Stage gehalten wird, wenn zum Beispiel die fortlaufende Handlung aus der Erzählperspektive eines Protagonisten plötzlich an einem Schlüsselmoment stoppt, und man an eine ganz andere Stelle katapultiert wird. Und zwar mit einem Charakter, der bisher vielleicht nur beiläufig Erwähnung fand und nun erstmal ganz woanders ansetzt. Dessen Story knüpft dann wiederum an den Cliffhanger des großen Ganzen an. Wie gesagt, es klingt komplizierter als es tatsächlich ist und man merkt eigentlich erst beim Lesen, wie flüssig Andreas Eschbach seine Jahrzehnte umspannende Geschichte scheinbar mühelos aus dem Ärmel schüttelt. Zumindest erscheint es beim Lesen so… an den komplexen Schreiprozess möchte ich dabei gar nicht denken.
Fazit:
Wenn Ihr Romane von Andreas Eschbach mögt: Unbedingt lesen. Wenn Ihr tolles Worldbuilding mögt: Unbedingt lesen. Wenn Ihr Fantasy mögt: Unbedingt lesen. Wenn Ihr Science-Fiction mögt: Unbedingt lesen. Ich könnte jetzt noch sehr, sehr lange so weitermachen, aber es würde immer wieder aufs Gleiche hinauslaufen… Unbedingt lesen!
Andreas Eschbach, Bastei-Lübbe
Deine Meinung zu »Eines Menschen Flügel«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!