The Mothman Prophecies - Tödliche Visionen
- Heyne
- Erschienen: Januar 2002
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Sie kommen! Sie kommen (doch nicht)!
Wir schreiben das Jahr 1967, als Bürger des kleinen Städtchens Point Pleasant im US-Staat West Virginia Alarm schlagen: Unheimliches geschieht dort, wo die Täler tief sind und die kollektive Hirnstromkurve flach bleibt. Über zwei Meter groß ist die Kreatur, die des Nachts und in der Dämmerung auf grauhäutigen Schwingen durch die Lüfte gaukelt, dabei „quiekt wie eine große Maus“ (Zeugin Mrs. Malette, S. 75) oder mit roten, grässlich leuchtenden Riesenaugen durch Speisekammerfenster späht.
Ist der Mottenmann die Vorhut einer Invasion aus dem All, einer anderen Dimension oder gar der Hölle? Der eilig aus New York City herbeigeeilte Journalist und UFO-Spezialist John A. Keel interviewt Zeugen, die Erstaunliches berichten: Mysteriöse Kreaturen schnaufen durch die Wälder, leutselige Raumschiffpiloten halten Schwätzchen mit perplexen Einheimischen, und roboterhafte „Männer in Schwarz“ erkundigen sich überall und nirgendwo ebenso auffällig wie ungeschickt sowie angeblich im Auftrag der Regierung danach, ob denn das Erdenvolk schon reif sei für Besuch aus anderen Welten.
Obwohl Geister und Außerirdische in Legionsstärke Point Pleasant und Umgebung heimsuchen, will dem wackeren Reporter keine eigene Sichtung gelingen. Keel muss sich immerhin mit unerklärlichen Kälte- und Angstgefühlen herumschlagen, für die er sachkundig x-dimensionale Kälte- und Angststrahler verantwortlich macht. Wieso diese gezielt dort zum Einsatz kommen, wo sich außer ihm kein Mensch aufhält, weiß er sich (und uns) allerdings nicht zu erklären.
Währenddessen schlägt der Mottenmann an anderer Stelle wieder zu. Der einzige Faktor, der alle Manifestationen eint, ist das generelle Versagen oder die Abwesenheit von Fotoapparaten. So bleibt denen, die dem flatterhaften Geist in die glühenden Augen blicken, stets nur die rasende Flucht im voll ausgefahrenen Wagen, während der Mottenmann fliegend & spielend Schritt hält und boshaft erst kurz vor Erreichen der nächsten Polizeistation abdreht. Aber Keel lässt sich nicht entmutigen und bleibt wachsam. Das zahlt sich aus, als plötzlich des Mottenmanns wundersame Gespielen gesprächig werden und Düsteres für die nahe Zukunft der irdischen Zivilisation prophezeien. Die Botschaften sind leider vage, weshalb dennoch schrecklich geschieht, was (irgendwie) angekündigt wurde …
Gegen Dummheit kämpfen selbst Aliens vergeblich
Bereit, liebe Leser, für eine Reise in die „Twilight Zone“ des Hirns, die der mit der Gabe der Vernunft geschlagene Realist nicht grundlos meidet? Dann nehmen Sie Platz neben John A. Keel, dem Mottenmann und Indrid Cold, dem Botschafter des Nudisten-Planeten Lanulos, auf unserer Fahrt dorthin, wo man nur als ‚Eingeweihter‘ willkommen ist.
Zwischen Himmel und Erde spielt sich in der Tat Seltsames ab, das sich mit normaler Schulweisheit in der Regel erklären lässt. Allerdings wollen die Männer und Frauen, die Keel uns hier vorstellt, genau das nicht hören. Jenseits von Betrug und Selbsttäuschung gibt es eine große Schar von Menschen, die ohne UFOs, Geister und Phantome ihr Dasein nicht bewältigen könnten. Sie sind entweder psychisch aus dem Lot oder schlicht dämlich, oder sie hausen im sozialen Abseits, bis der Mottenmann erscheint und ihnen endlich ein wenig Beachtung = Warhols sprichwörtliche fünf Minuten im Rampenlicht beschert.
Der gesunde Menschenverstand richtet auf diesem glatten Parkett wenig aus. John Keel (1930-2009) legt in „The Mothman Prophecies“ eine Vielzahl von ‚Beweisen‘ für übernatürliches Treiben vor, die den Skeptiker verzweifelt den Kopf schütteln lassen. Hörensagen, Wunschdenken, Irrtum, Manipulation: Die Liste lässt sich problemlos fortsetzen; sie ist fundamental für die Existenz jenes Schattenreichs, das den Denkenden vom Gläubigen trennt.
Wissenschaft, die Unwissen schafft
Keels Erinnerungen an ein für ihn und die Seinen denkwürdiges Jahr 1967 stellt sich objektiv als wüstes Durcheinander schlecht oder gar nicht belegter Pseudo-Berichte, einseitiger Interpretationen, Schmähtiraden, wirrer Thesen und weitschweifiger Anekdoten dar, durch das nicht einmal der titelgebende Mottenmann trotz seiner Augenfarbe einen roten Faden zu legen vermag. Von Point Pleasant geht es munter quer durch die USA und dann weiter durch Raum und auch Zeit in eine mystische Vergangenheit, zu der Wissenschaftlern und anderen Spielverderbern kein Zutritt gewährt wird. Selbstverständlich werfen wir einen Blick in die geheimen Archive und Versuchsstationen der notorisch gegen das ‚die Wahrheit‘ begehrende Volk verschworenen Regierung und steigen schließlich hinauf zur Wolke Sieben, wo die von Keel zusammengesponnene „kosmisch-extradimensionale Zentralintelligenz“ aus unerfindlichen Gründen rund um die Uhr damit beschäftigt ist, die Menschheit mit übersinnlichen Schattenspielen auf Kindergarten-Niveau zu piesacken.
Lange wird man nicht schlau, wie John Keel zum Mottenmann und seinen nebulösen Kumpanen steht. Er hat sich nach eigenen Worten der Untersuchung unerklärlicher Phänomene verschrieben und ist ein weit gereister Mann, der Augen und Ohren stets offengehalten hat. Keel kennt seine Pappenheimer und weiß durchaus, dass Humbug und Wirrnis das erwähnte Schattenreich dominieren, das auch ihm zur zweiten Heimat geworden ist.
Mit ironischem Witz legt er zunächst offen, wie sich die geistig Armen ihre Mottenmänner selbst erschaffen. Demnach werfen die Menschen solche Phantome selbst als Projektionen des Geistes in die Welt. Wenn’s so funktioniert, so Keel weiter, lässt sich die Flut umhertölpelnder Außerirdischer und Unfug stammelnder Geistwesen dadurch erklären, dass es hauptsächlich Spinner und Schwachköpfe sind, die sie sich ausdenken. Es ist verrückt: Keel skizziert einleuchtend Mechanismen, die Mottenmänner entstehen lassen und sie nähren. Faktisch beschreibt er auch sich selbst, fühlt sich aber nicht betroffen.
Wie man Unfug durch Hörensagen ‚beweist‘
Stattdessen wird deutlich, wie tief Keel im Sumpf des Dubiosen steckt. Die UFO- und Spiritisten-Szene zerfällt in ein verworrenes Geflecht vieler Fraktionen, die sich jeweils im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen und Gegner in den eigenen Reihen womöglich noch erbitterter bekämpfen als Spötter und Zweifler. Die Fronten sind nicht fest, sondern verändern sich ständig, weil neue Bündnisse geschlossen werden oder alte zerfallen, während die Splittergruppen sich anderen Gemeinschaften anschließen.
Selbstverständlich sind John Keels Studien des Mysteriösen über alle Zweifel erhaben. Dabei erkennt selbst der Amateur, dass der Autor einen veritablen Dachschaden hat. Letztlich schießt er sich als Sachbuch-Autor selbst ins Abseits, wenn er im Brustton der Überzeugung von Begegnungen der ganz besonderen Art erzählt: „Anfang Juni 1967 empfing Mary Hyre [aus Point Pleasant] den ersten von einer langen Reihe seltsamer Besucher ... ‚Er kam immer näher‘, berichtete sie. ‚Seine komischen Augen starrten mich fast hypnotisch an.‘ ... Einmal klingelte das Telefon, und während sie das Gespräch führte, nahm der kleine Mann einen Kugelschreiber von ihrem Schreibtisch und untersuchte ihn staunend, als ob er noch nie einen Kugelschreiber gesehen hätte. ‚Sie können ihn haben, wenn Sie wollen‘, bot sie an. Er reagierte mit einem lauten, auffälligen Lachen, das einem Gackern ähnelte. Dann rannte er in die Nacht hinaus und verschwand hinter einer Ecke. Am nächsten Tag fragte Mary Hyre bei der Polizei nach, ob irgendwelche Personen mit psychischen Schäden vermisst würden. Die Antwort war negativ.“ (S. 105/106)
Solche bedeutungsfreien Schnurren präsentiert uns Keel laufend als ‚Beweise‘ dafür an, dass die Außerirdischen unter uns sind. Hand aufs Herz, liebe Leser: Würden Sie Mary Hyres angeblichen Besucher für den Repräsentanten einer extraterrestrischen Supermacht halten, der Lichtjahre durch den Kosmos gereist ist, um sich am Ziel wie ein Volltrottel aufzuführen? Aber für Keel und seine Jünger ist jede Abweichung von der menschlichen Verhaltensnorm mit dem Beweis für buchstäbliche Weltfremdheit identisch.
Variable Prophezeiungen korrigieren Irrtümer
Natürlich lösen sich die „tödlichen Visionen“ des deutschen Untertitels bei näherer Betrachtung in Luft auf. Sie bilden ein völlig aus der Luft gegriffenes Bündel obskurer Unkereien, die alles und nichts ankündigen: Wirklich große Visionen zeichnen sich seit jeher durch Verschwommenheit aus, sodass sich alle möglichen Ereignisse nachträglich auf sie beziehen lassen. Also sitzt Keel im Dezember 1967 erwartungsvoll vor dem Fernseher, weil die Zeichen angeblich auf einen landesweiten Stromausfall hinweisen. Als stattdessen die Brücke von Point Pleasant einstürzt und viele Menschen in den Tod reißt, disponiert er sogleich um: Plötzlich passen die von ihm ‚erkannten‘ Vorzeichen exakt zu dieser Katastrophe!
„The Mothman Prophecies“, das Buch, hat wenig mit dem gleichnamigen Film zu tun, den Regisseur Mark Pellington 2001 mit Richard Gere als John Keel (hier John Klein geheißen) in Szene setzte. Hollywood zahlte allein für den Mottenmann-Plot, der sich zu einem modernen US-Mythos entwickelt hat und somit für sich selbst Werbung fliegt. „The Mothman Prophecies“, der Film, ist ein oft zäher, genrekonformer Mystery-Thriller mit einigen Schauwerten, der sich im Bemühen, Keels sinnfreie Geisteswelt anzuzapfen, selbst ein Bein stellt. Der Film und noch mehr das Buch bleiben eine interessante (und bedrückende) Lektion in moderner, ansteckender Massenhysterie.
In manchen Nächten, in denen die Sonnenflecken, die Anti-Alien-Strahlen des geheimen CIA-Kampfsatelliten „Debilia IV“ und der Alkoholpegel der Bevölkerung sich in einem fein austarierten Gleichgewicht befinden, fliegt über Point Pleasure übrigens noch heute der Mottenmann ... Wer ihn nicht erblickt, findet ersatzweise eine lebensgroße Statue, die 2003 im genannten Ort aufgestellt wurde, und besucht das zwei Jahre später eröffnete Museum: Wie am Loch Ness oder nahe Area 51 liebt man in Point Pleasant (besonders die lokale Tourismusbranche) ‚sein‘ Monster!
Fazit:
Ein Klassiker für verschwörungssüchtige Esoteriker, Spökenkieker & Spinner, ansonsten ein Machwerk nie vertiefter Andeutungen, dreister Behauptungen und sich selbst ‚beweisender‘ Ringschlüsse, das entweder langweilt, als Trash amüsiert oder ungut verdeutlicht, mit wie vielen Idioten man diesen Planeten teilt.
John A. Keel, Heyne
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