X-Women: Der erste Widerstand
Es geschieht scheinbar ohne Vorwarnung: Einige Frauen entwickeln die Fähigkeit, über die Hände elektrische Stromstöße abzugeben. Zunächst handelt es sich nur um vereinzelte Vorfälle, aber bald werden es mehr und mehr. Mädchen und junge Frauen können diese latente Gabe in ihren älteren Geschlechtsgenossinnen aktivieren. Für diese Kraft verantwortlich zu sein scheint ein neu herausgebildetes Organ am Schlüsselbein, das die Menschen bald „Strang“ nennen. Viel mehr weiß man zu Beginn noch gar nicht über das seltsame Phänomen, doch ändert es den Lauf der Dinge rasend schnell. Besonders in den früheren Ballungszentren der Zwangsprostitution kommt es zu gewaltsamen Racheakten. Unterschiedlichste Protestbewegungen und Gegenbewegungen entstehen. Geschichte wird neu geschrieben. Überall auf der Welt schlagen die Frauen zurück!
Verschiedenste Personen geraten in den Strudel der Ereignisse: Tunde ist einer der ersten Männer, die die Kraft am eigenen Leib zu spüren bekommen, und er beginnt, Frauenbewegungen aus nächster Nähe zu dokumentieren und damit seinen journalistischen Ambitionen nachzugehen; Allison Montgomery-Taylor, jahrelang von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht und häufig missbraucht, findet in einem Orden an der Ostküste Unterschlupf, wo sie unter dem Namen „Mother Eve“ eine neue Religion ins Leben ruft – so wie es ihr die Stimme in ihrem Kopf befiehlt; Roxy Monke, Mitglied einer mächtigen Londoner Mafiafamilie, wird zu Mother Eves Vertrauter und „Soldatin“ (ist die Gabe bei ihr doch überdurchschnittlich stark ausgeprägt), und beginnt schließlich mit einer Droge zu handeln, welche die weiblichen Kräfte noch verstärkt; Senatorin Margot Cleary will hoch hinaus und richtet sogenannte NorthStar-Camps ein, in welchen junge Mädchen ihre Fähigkeiten trainieren können – angeblich zum Schutz der inneren Sicherheit; und Tatjana Moskalew, einstige Präsidentengattin, mittlerweile jedoch selber Präsidentin von Nordmoldau, will Krieg und verfällt zusehends dem Größenwahn. Je mehr sich die Ereignisse verketten, desto mehr scheint die Welt auf eine Katastrophe zuzusteuern …
„Ich will Gerechtigkeit. Und dann will ich alles“
In Die Gabe ersinnt Naomi Alderman eine Welt, in welcher Frauen eine seltsame, verheerende Kraft erlangen, sich gegen die jahrhundertelange Unterdrückung durch Männer wehren und den Spieß der Machtverhältnisse umdrehen. Die Erzählperspektive springt dabei zwischen den verschiedenen Protagonisten hin und her, deren Wege sich immer wieder kreuzen, bis alle Handlungsfäden im (nicht ganz so) furiosen Finale zusammenlaufen. Alderman ist auf jeden Fall eine kompetente Erzählerin: Die Geschichte liest sich flüssig und rasant, Langeweile kommt kaum auf.
„Kann man den Blitz zurückrufen? Oder kehrt er von allein in die Hand zurück?“
Zu der Frage, ob die Welt friedlicher wäre, würde sie von Frauen regiert, positioniert sich die Autorin mit diesem Buch recht klar. Leider lässt die Ausführung dennoch zu wünschen übrig: Zum einen zeigen sich Mängel in der platten Figurenzeichnung, zum anderen ist der Plot oft reißerisch, übertrieben und nicht immer glaubwürdig. Es scheint doch etwas weit hergeholt, dass diese neue Gabe in kürzester Zeit so viele Frauen zu mordlustigen Bestien macht und die Welt innerhalb weniger Jahre ins Chaos stürzt. Die Hintergründe und soziopolitischen Implikationen der Prämisse werden zwar durchaus aufgegriffen, man hätte sie aber subtiler und raffinierter ausloten können. Selbst wenn man die (schwer zu haltende) Behauptung aufstellen wollte, der Geschlechterkampf an sich stünde gar nicht so sehr im Vordergrund, sondern einfach das altbekannte Motiv „Macht korrumpiert“ (bzw. eine Variation dessen), müsste man konstatieren, dass man auch das schon besser gelesen hat. Vielleicht hätte die Story als Jugendroman zur Annäherung an komplexe Themenfelder besser funktioniert. Zumindest hätte es dem Roman gutgetan, sich selbst weniger ernst zu nehmen.
Nicht unerwähnt bleiben darf allerdings die Metaebene, die Alderman gleich zu Beginn aufmacht und am Ende wieder aufgreift. Denn gerade in diesem cleveren, alles auf den Kopf stellenden Twist artikuliert sie ihr Kernanliegen laut und deutlich. Tatsächlich könnte man diesen Schluss fast schon wieder als Totschlagargument gegen jegliche Kritik an dem Roman ins Feld führen! Dennoch muss die Frage erlaubt bleiben, ob die intelligente Ausarbeitung einer guten Idee auf den letzten Metern das verschenkte Potenzial der vorhergehenden über 400 Seiten voll ausgleichen kann.
Fazit:
Die Gabe ist ein spannend geschriebener und gelegentlich kluger Sci/Fi-Thriller, der leider nicht ganz so tiefgründig ist, wie er zu sein vorgibt, und damit etwas hinter seinen Möglichkeiten zurückbleibt. Dennoch trifft sein Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Debatten einen Nerv (Stichwort: „Incels“) und bietet zumindest eine flotte und unterhaltsame Lektüre.
Naomi Alderman, Heyne
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