Der Schrecken: Eine Fantasie
- Elfenbein
- Erschienen: März 2020
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Die Angst als Perpetuum Mobile
1915 schleppt sich der (Erste) Weltkrieg in sein zweites Jahr. Auf dem europäischen Kontinent haben sich die Gegner in Gräben verschanzt. Die Front ist erstarrt und wird von Spreng- und Gasgranaten zerfurcht und vergiftet. Nutzlose Angriffe und Gegenattacken fordern unzählige Opfer. Das Militär ist auf beiden Seiten eifrig bemüht, die ständigen Hiobsbotschaften positiv umzudeuten; wo dies nicht gelingen will, wird rigoros zensiert und gelogen.
Weit abseits der Front ist man in England unsicher, wie es um den Krieg bestellt ist. Ungeachtet der Siegesmeldungen bemerken die Briten sehr wohl, dass es nicht vorangeht. Inzwischen hat quasi jeder Bürger Verwandte und Freunde verloren. Der „Hunne“ scheint unbezwingbar. Womöglich ist er sogar näher als gedacht. Die Angst vor einer deutschen Unterwanderung oder gar Invasion greift um sich.
Als es zunächst in Wales und dann in den Midlands zu mysteriösen Todesfällen kommt, fragt man sich deshalb, ob die Hunnen womöglich schon auf der Insel sind. Immer wieder werden Männer, Frauen und Kinder tot aufgefunden. Oft sind sie unverletzt, manchmal grässlich zugerichtet. Dass Militär und Regierung die Vorfälle unterdrücken, schürt die Furcht vor einer Gefahr, die buchstäblich nicht zu begreifen ist …
Glaube versetzt Berge - und lässt sie über dir zusammenbrechen
„Eine Fantasie“ lautet der Untertitel dieses Kurzromans, was den Nagel sogar doppelt auf den Kopf trifft: Zum einen spinnt Autor Arthur Machen ein Mystery-Garn, das den Konventionen der zeitgenössischen Grusel- und Krimi-Literatur entspricht, während er zum anderen eine Parabel präsentiert. Das Finale legt offen, dass ihm die Botschaft wichtiger ist als die spannende Erzählung, die vor allem jene Leser locken soll, die normalerweise vor ‚philosophischen‘ Themen zurückschrecken. Als Machen die Katze aus dem Sack lässt, löst dies jedenfalls keinen Aha-Effekt aus, der die Leser mit Staunen oder Bewunderung erfüllt. Er liefert, was er nach ausführlicher Auflistung bemerkenswerter Rätselhaftigkeiten liefern musste: eine Auflösung. Da diese wohl schon die Zeitgenossen nicht gerade überwältigen konnte, weicht die Literaturkritik lieber auf den Subtext aus.
Es fällt nicht immer leicht, sie auf diesem Weg zu begleiten. Zwar ist Machen ein Meister darin, sein Thema spannend zu verpacken, doch entschuldigt dies nicht zwangsläufig die eher pflichtschuldige Erklärung. Vor mehr als einem Jahrhundert mag dieser Einwand nicht so laut erklungen sein wie heute, da wir die Tricks kennen, mit denen Machen arbeitet. Film und Fernsehen haben uns diesbezüglich ebenso geschult wie abstumpfen lassen, weshalb Machen keinen „Schrecken“ mehr verbreiten kann.
So sollten wir uns auf eine altmodische, aber interessant konstruierte Schauermär einstellen, die weniger durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Stimmung wirkt. In dieser Hinsicht leistet Machen ausgezeichnete Arbeit. „Der Schrecken“ ist dort ein Meisterwerk, wo sich der Autor mit dem Phänomen der Furcht beschäftigt.
Allgegenwärtiger Tod trotz ferner Front
Machen konnte dabei auf eine generelle Unsicherheit zählen konnte, die den Alltag seiner (englischen) Leser prägte. Als er 1917 seine „Fantasie“ schrieb, dauerte der „Große Krieg“ im vierten Jahr an. Geändert hatte sich die verfahrene Situation an der Westfront nicht. Die Zahl der Gefallenen und Versehrten war in aberwitzige Höhen gestiegen. Weiterhin blieben die Deutschen und ihre Verbündeten standhaft. Dass ihre Reserven schwanden, blieb den Briten weit abseits der Front unbekannt - dies auch aufgrund einer strikten Zensur, mit der Militär und Regierung den zunehmenden Unwillen, weiterhin junge Männer in den sicheren Tod zu schicken, unterlaufen wollte. Der Krieg sollte - koste es, was es wolle - fortgesetzt und siegreich beendet werden.
Wo die Wahrheit manipuliert wird, blüht das Gerücht. Machen konnte in dieser Hinsicht mitreden. Im September 1914 hatte er die Erzählung „The Bowmen“ veröffentlicht, nach der Engel vom Himmel gestiegen waren, um sich schützend vor britische Soldaten zu stellen, die in ihrer ersten Schlacht am 23. und 24. August 1914 nahe dem belgischen Mons von den Deutschen überrannt zu werden drohten. Machens Story verwandelte sich zum Entsetzen des Autors in eine moderne Legende, die zur tröstlichen ‚Wahrheit‘ mutierte.
Mehrfach spricht Machen in „Der Schrecken“ sarkastisch die „Engel von Mons“ an, die er als Exempel für die Macht der Einbildung zitiert. Davon ausgehend postuliert er, dass sich die Vorstellungskraft negativ verselbstständigen kann. Was verursacht den „Schrecken“? Die ratlose und von ihrer Obrigkeit im Stich gelassene Bevölkerung - der Machen einprägsame Stimmen gibt - denkt sich ‚Begründungen‘ aus und steigert sich dabei in immer aberwitzigere Szenarien hinein, wobei die Kriegsängste den Ton vorgeben: Sind die „Hunnen“ schon im Land? Warten sie in riesigen unterirdischen Kavernen darauf, über die Insel herzufallen? Senden sie dank einer ‚Wunderwaffe‘ Wahn erzeugende Strahlung über England? Jede Teufelei traut man einem Feind zu, den man mehrheitlich noch nie zu Gesicht bekommen hat.
Die Natur als Element des Unerwarteten
Wie Joachim Kalka in seinem Nachwort erläutert, war Machen ein Mystiker. Vor und nach 1900 war es nicht ungewöhnlich, der Natur ein Eigenleben bzw. sogar einen Eigenwillen zuzusprechen. Machen schrieb Geschichten, in denen entsprechende Manifestationen staunenden und entsetzten Menschen begegneten. Dies sorgte für Momente ‚kosmischer‘ Erkenntnis, denen allerdings meist ein grausiger Tod folgte. Das Fremde, ‚Ursprüngliche‘ konnte sich als „kleines Volk“ gar nicht niedlicher Elfen, als archaische ‚Gottheit‘ oder als formlose Entität offenbaren, die sich jeglicher Definition entzog. Unter ungünstigen Umständen konnten allzu neugierige Zeitgenossen in den Bann solcher Kräfte geraten und die Evolutionsleiter bis zum Urschleim hinabstürzen.
In „Der Schrecken“ belässt es Machen bei Andeutungen des Übernatürlichen. In seinen Schilderungen nur oberflächlich idyllischer Landschaften arbeitet er die potenzielle Feindseligkeit einer keinesfalls gezähmten Natur heraus, die sich gegen den Menschen erhebt, der lange nicht begreift, wie ihm geschieht. Im Stile eines Journalisten, der er lange Jahre tatsächlich war, fügt Machen Informationsfragmente zusammen. Er lädt seine Leser ein, selbst eine Lösung zu finden, macht aber deutlich, dass dies entweder unmöglich ist oder - noch erschreckender - das Wissen keine Hilfe bringt.
Machen blieb in seinen Werken oft lückenhaft. Manchmal fiel ihm offensichtlich keine zufriedenstellende Auflösung ein, aber oft wollte er gar nicht deutlich werden: Das Rätsel ist stets stärker als die Lösung, weil es die Fantasie dessen beansprucht, der sich ihm widmet. „Der Schrecken“ ist dafür ein Paradebeispiel. Auf dieser Ebene bleibt dieser kurze Roman aktuell. Machen mag eine historisch gewordene Welt beschreiben und in der Auflösung seines Mysteriums schwächeln. Seine Schlussfolgerungen sind dagegen zeitlos.
Fazit:
Aus zahlreichen Informationsfragmenten formt Autor Machen ein Rätsel, dessen Auflösung weniger wichtig ist als die Reaktionen der Menschen, die sich Schrecken ausmalen, die sie stärker in Angst versetzen als die endlich erkannte Wahrheit. Der Erste Weltkrieg bietet den Hintergrund für Machens (meist) ebenso spannende wie zeitlose Beschäftigung mit dem Phänomen der (kollektiven) Furcht.
Arthur Machen, Elfenbein
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