Anomalie - Nicht jedes Geheimnis darf ans Tageslicht
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Oktober 2019
- 0
Was wirklich während (und seit) der Sintflut geschah
Nolan Moore, einst leidlich erfolgreicher Schauspieler, ist er seit dem Ende seiner Ehe auch beruflich auf den Hund gekommen. Der rettende Strohhalm erreichte ihn aus dem Internet, wo dem klassischen Fernsehen mehr oder weniger kompetente, aber oft erfolgreiche Konkurrenz entstand. Da Begriffe wie „Qualität“ hier oft als Schimpfwort gelten, entstand „Anomaly Files“, eine ‚Doku‘-Serie, deren Crew sich ‚ungelösten Rätseln‘ der Weltgeschichte widmet, d. h. sich vor Ort scheinbar auf die Spuren von Bigfoot begibt oder nach dem Heiligen Gral fahndet.
Aktuell steht eine Expedition in den Grand Canyon an. Das eingespielte „Anomaly-Files“-Team besteht wie üblich aus Nolan, dem Produzenten Ken, seiner Assistentin Molly und dem Kameramann Pierre. Hinzu kommen der mit dem schwierigen Gelände vertraute Dylan, die Journalistin Gemma und die junge Feather. Letztere vertritt den Sponsor, die zwar obskure, aber zahlungskräftige „Palinhem Foundation“; nur letzteres interessiert das Team, das seine zynische Freude über solche Dummheit allerdings bald bereut.
Ziel der Reise ist eine mysteriöse Höhle irgendwo im genannten Canyon. Im frühen 20. Jahrhundert will ein Abenteurer dort Schätze und unglaubliche Relikte einer versunkenen Zivilisation entdeckt haben. Offiziell wurde dies nie bestätigt. Das Team rechnet nicht wirklich mit einer Entdeckung. Als diese wider Erwarten gelingt, weicht die Freude blankem Entsetzen, denn man ist in eine Falle getappt, die ihre ‚Gäste‘ nicht mehr verlassen sollen. Zu allem Überfluss wurde ein uralter Mechanismus in Gang gesetzt, der eine Art Genesis startet: Die Höhle füllt sich mit bizarren Kreaturen. Sie beginnen umgehend mit der Jagd auf die Eindringlinge, die so buchstäblich zu Opfern ihres Erfolgs werden …
Dunkelheit, die Spannung schafft
Grundsätzlich könnte diese Besprechung angemessen kurz bleiben. Die Idee hinter der Story ist dürftig, der rote Faden dünn: Autor Michael Marshall Smith, der „Anomalie“ unter dem nie verschwiegenen Pseudonym „Michael Rutger“ veröffentlicht, spinnt wie üblich ein Garn aus zweiter bis dritter Hand.
Zu seinem Glück kann er sich auf einen gleichermaßen ausgelaugten wie fruchtbaren Plot stützen: Weiterhin sind wir fasziniert von Geschichten, die in tiefen, lichtlosen, aber nicht unbewohnten Höhlen spielen. Dort haben wir einst gehaust, woran wir uns unterbewusst offenbar immer noch erinnern. Dunkelheit ist generell ein Schwachpunkt unserer Psyche, die sogar gegen uns arbeitet, indem uns die übrigen Sinne eine Umgebung vorgaukeln, in der es vor hungrigen Unholden wimmelt, die uns sehr wohl sehen können.
Eine weiträumige Höhle bietet sich auch sonst als Schauplatz an. Die Figuren begeben sich auf eine Mission, deren Ablauf und Ausgang von den topografischen Gegebenheiten mitbestimmt bzw. dominiert wird. Obwohl die „Anomalie“-Höhle recht verzweigt ist, zwingt sie ihre Besucher primär in eine Richtung. Es geht voran = tiefer in den Untergrund = immer näher in Richtung Gefahrenquelle, die aufgrund der allgegenwärtiger Felswände (sowie des genretypisch versperrten Rückwegs) identisch mit dem Höhepunkt der Ereignisse ist.
Hit & Run - Run & Die
Die folgen dem bewährten Konzept „Der Weg ist das Ziel“: Bis das Zentrum des Schreckens erreicht ist, stößt die Gruppe auf Rätselhaftes, das sich aus der Düsternis schält, um von den Protagonisten bestaunt und ausgiebig kommentiert zu werden. Der Autor mischt Fiktion mit Fakten zu einem leicht verdaulichen Brei, der mit verschiedenen Light-Mythen der Geschichte abgeschmeckt wird. Primär geht es um den ‚tatsächlichen‘ Ursprung des Menschen, den womöglich Außerirdischen ‚konstruiert‘ haben, was nachträglich als ‚Werk Gottes‘ verklausuliert wurde.
Dazu passt eine „doomsday machine“, die sich Indiana Jones nicht schöner (oder schlimmer) hätte ausdenken können: Wie jeder ‚wiederentdeckte‘ Schöpfungsgenerator wird auch dieser laienhaft bedient oder in Gang gesetzt, was spektakuläre Folgen zeitigt. Hier bereitet der uralte, aber offenkundig wartungsfreie Mechanismus eine neue Sintflut vor. Die wird hier als programminterne Möglichkeit definiert, eine zur globalen Plage gewordene Menschheit auszutilgen, um eine anschließend besenreine Erde mit ‚gelungeneren‘ Intelligenzwesen zu bevölkern.
Um die Spannung zu steigern, geschieht das Tilgen nicht durch schnödes Wasser. Stattdessen spuckt der Generator ‚Dämonen‘ aus, die uns unterbewusst bekannt sind, weil wir sie anlässlich von Sintflut Nr. 1 bereits getroffen haben. Einige Versprengte dieser Mordtruppe haben wohl auch später ihr Unwesen getrieben und dadurch den menschlichen Sagenschatz bereichert. Jedenfalls sorgen allerlei Ungetüme dafür, dass die Schar der Protagonisten blutig ausgedünnt wird.
Im Dienst der Deppen
Für sein simples Garn hat Rutger den idealen Ankerplatz gefunden: Notorische Verschwörungstheoretiker und Spinner haben das Internet als Heimat erkoren; schaut man sich an, was sie dort verbreiten, kommt man zu dem Schluss, dass sie sich im wahrsten Sinn des Wortes sauwohl dort fühlen. Der technische Fortschritt kommt ihnen zu Hilfe: Konnten zunächst nur Texte und später grobpixelige Fotos ausgetauscht werden, sind heute sogar Filmbeiträge möglich, die es zumindest qualitativ mit denen des Fernsehens aufnehmen können.
Inhaltlich wird jenes Stroh gedroschen, das die Repräsentanten solcher Pseudo-Wissenschaften reichlich zwischen ihren Ohren lagern. Längst speist dieses Lager auch ‚Dokumentationen‘, deren Produzenten um den geistigen Zustand ihres Publikums wissen: Es ist gar nicht nötig harte Fakten zu zeigen. Die vergebliche oder besser: vorgebliche Suche genügt, um Zuschauer zu generieren. Also casten genannte Produzenten rübezahlbärtige „Crocodile-Dundee“-Klone (plus mindestens eine Frau als „eye candy“) und lassen sie durch die Wildparks halbwegs erschlossener Tropenländer stapfen. Eingeschnittene „Was-war-das?“-Geräusche, schwankende Zweige oder ein äonenaltes Artefakt, das im Nachspann knapp als Flaschenöffner oder Handtuchhalter entzaubert wird, sorgen für schlecht gemimten ‚Schrecken‘ und steigern den ärmlichen Mystery-Faktor.
Wie es hinter den Kulissen einer solchen Humbug-Show zugeht, führt Autor Rutger so anschaulich vor, dass es sich zum Unterhaltungsfaktor formt. Ausgebrannte Zyniker, die bestenfalls einem Job nachgehen, geben sich vor der Kamera als Jünger ‚echten‘ Wissens aus, um hemmungslos über ihr Publikum zu spotten, sobald sie unter sich sind. Ansonsten mischen sich einige Schurken unter die Figuren, denn wie so oft reichen steile Klippen, Todesfallen und Monster keineswegs als Bedrohungen aus. Die Motive dieser Finsterlinge sind faktisch gleichgültig, weshalb es Rutger bei der vagen Erwähnung einer Munkel-Truppe belässt, die Illuminati-gleich - also selbstzweckhaft - verschollenen = absichtlich aus der Historie getilgten ‚Wahrheiten‘ hinterherjagt.
Wer da agiert, also flüchtet, kämpft und stirbt, bleibt den Lesern gleichgültig, obwohl Rutger viel Mühe (und Buchseiten) in den Versuch investiert, durch ausführliche Biografien Figurennähe zu schaffen. Da sich dies jedoch auf bis zur Ärgerlichkeit ausgesaugte Klischees beschränkt, trägt es eher zum Vergnügen bei, wenn es einen dieser Scherenschnitte erwischt. Weil Rutger erzählen kann, wird trotz aller Mankos ein gewisser Unterhaltungslevel nicht unterschritten.
Fazit:
Mystery-Misch(masch) aus Science Fiction und Horror. Die routinierte Schreibe gleicht die rudimentäre Figurenzeichnung, die Geisterbahn-Handlung oder das „Außer-Spesen-nix-gewesen“-Finale halbwegs aus: Halbschlaf-Lektüre, die bei zufriedenstellender Auflagenhöhe problemfrei fortgesetzt werden kann (was bereits geschehen ist).
Michael Rutger / Michael Marshall (Smith), Bastei-Lübbe
Deine Meinung zu »Anomalie - Nicht jedes Geheimnis darf ans Tageslicht«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!