Die Tore zu Anubis Reich
- Heyne
- Erschienen: Januar 1988
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Schauriges Kammerspiel in epischen Ausmaßen
Zeitreisen sind einfach die Königsdisziplin der Fantastik. Der Autor kann, wenn er es mit der Logik nicht ganz so genau nimmt, nach Lust und Laune die vermeintliche Historie auseinander nehmen und nach gut Dünken wieder zusammensetzen.
Der Spaß bei der Sache ist, dass man Geschichte unter ganz neuen Gesichtspunkten gestalten kann. So könnte zum Beispiel der Romanheld in die Zeit zurückreisen, um dem Bau der ägyptischen Pyramiden beizuwohnen. Er trifft im alten Ägypten ein und muss feststellen, dass der Pharao und sein Volk nicht den kleinsten Finger rühren, die Bauwerke zu erbauen, die sie und ihre Zeit einmal berühmt machen werden. Um der vermeintlichen Geschichte genüge zu tun, schreitet der Zeitreisende mit modernen Mitteln zur Tat und baut das Weltwunder einfach selbst. So lässt sich dann auch endlich einmal plausibel erklären, wie diese Zeugnisse menschlicher Baukunst in den ägyptischen Wüstensand gelangt sind.
Wunderbar, ein Zeitreise-Kolportage-Roman!
In der Erwartungshaltung einer solchen Geschichte beginnt man Tim Powers Roman ";Die Tore zu Anubis Reich".
Professor Brendan Doyle wird eines Tages, man schreibt das Jahr 1983, von dem exzentrischen Unternehmer J. Cochran Darrow eingeladen, an einer Zeitreise in das London des Jahres 1810 teilzunehmen, um dort den Dichter Samuel Taylor Coleridge zu treffen und einem seiner Vorträge beizuwohnen. Darrow hat den Ausflug in die Vergangenheit für einige reiche Interessenten organisiert und möchte Doyle unbedingt als fachlichen Berater dabei haben, hat dieser doch eine Biographie über den Dichter verfasst.
Doyle nimmt das Angebot an, findet sich auch bald im London des beginnenden 19. Jahrhunderts wieder und trifft dort auf Coleridge. Doch bevor er wie geplant in seine Zeit zurückkehren kann, wird er gefangen genommen. Zwar kann er fliehen, hat vorerst aber keine Möglichkeit, wieder ins Jahr 1983 zu gelangen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich erst einmal mit seiner Situation zu arrangieren. So findet er dann auch seine Lage am Anfang eigentlich ganz reizvoll, könnte er doch sein überlegenes Wissen nutzen, um ein gutes Leben in jener Zeit zu führen. Doch ist er bereits im Visier eines verrückten Zauberers, welcher mit Hilfe von Magie die Weltherrschaft an sich reißen will. Außerdem schleicht durch das London des Jahres 1810 ein Werwolf, der scheinbar in die Körper anderer Menschen schlüpfen kann.
Die zwölf Stunden der Nacht
Während des Lesens der ersten Kapitel des Romans, fragt man hin und wieder, warum Tim Powers bereits 1983 erschienenes Buch ein solcher Kult werden konnte, welches mit diversen, hochkarätigen Auszeichnungen versehen wurde. Man bedauert, während der sich des Öfteren in die Länge ziehenden Verfolgungsjagden durch das London der verschiedenen Zeitalter die ungenutzten Möglichkeiten, die diese Geschichte doch hätte hergegeben können. Der Autor will die anfänglich geweckte Sehnsucht nach einer ganz bestimmten Art von Zeitreiseroman nur bedingt erfüllen.
Erst im Laufe der Geschichte erschließt sich nach und nach die eigentliche Intention des Autors, das, was Powers mit diesem Roman eigentlich erzählen will. Auf jeden Fall keinen ausgeklügelten Zeitreiseroman, der vor dem staunenden Leser die Historie in einem neuen Licht ausbreitet. Obwohl Versatzstücke dafür nicht fehlen, spielen sie doch nur eine eher untergeordnete Rolle; Powers Roman ist vielmehr ein Schauerstück, welches H. P. Lovecraft zur Ehre gereicht hätte.
Ein unbedarfter Durchschnittstyp findet sich plötzlich in einem erschreckendem Kosmos wieder, in dem er hilflos zusehen muss, wie Kräfte jenseits des normalen Verstandes die Welt nach ihren grausigen Vorstellungen formen. Wie in Dantes ";Göttlicher Komödie" befindet sich der Hauptheld bald auf einer Reise durch die Reiche der Toten. Die Welt um ihn spottet immer mehr dem normalen Verstand.
Der Protagonist gerät tiefer und tiefer in den Strudel von Ereignissen, denen er eigentlich lieber entfliehen möchte. Immer verzweifelter werden seine Handlungen, den Gang der Dinge wenigstens einigermaßen in der eigenen Hand zu behalten, um dann doch immer mehr zum Spielball unheimlicher Kräfte zu werden. Beim Lesen beginnt man langsam aber sicher zu ahnen, die Geschichte strebt einem grausigen Höhepunkt zu. Am Ende wird die Hauptfigur im wahrsten Sinne an Gestade gespült, die er und der Leser eigentlich so nicht erwarten durften.
Und genau dieser Verlauf der Geschichte, macht Powers Roman so lesenswert, versöhnt am Ende mit der einen oder anderen sich in die Länge ziehenden Verfolgungsjagd, einer vielleicht (zum Glück) enttäuschten Erwartungshaltung und der nicht immer leicht zu folgenden Geschichte. Man ist froh, dass alles anders gekommen ist als gedacht und der Roman einen so überrascht hat. Am Ende bleibt er jedenfalls länger im Gedächtnis, als einem vielleicht lieb sein kann.
Tim Powers, Heyne
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