Tolkien - Schöpfer von Mittelerde
- Klett-Cotta
- Erschienen: April 2019
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Der Mann, der eine ganze Welt erschuf
Selbst wer sich nicht mit der Phantastik auskennt, dürfte den Namen „Tolkien“ korrekt einordnen. John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973) schuf den Mythos von Mittelerde, den er vor allem mit dem Roman „The Hobbit“ (1937; dt. „Der Hobbit“) und der Trilogie „The Lord of the Rings“ (1954/55, dt. „Der Herr der Ringe“) populär machte. Ihm gelang ein Jahrhundert-Werk, das die ganze Welt eroberte - friedlich, aber unwiderstehlich. Schon über den „Hobbit“ und den „Herrn der Ringe“ wurden unzählige Bücher und Artikel geschrieben. Die Filme nach den Romanen gehören zu den Meisterwerken der Filmgeschichte. Gerade werden sie wieder neu verfilmt; dieses Mal werden sie ins Fernsehen kommen und dort zweifellos eine neue Generation begeisterter Fans finden.
Doch Tolkien war mehr als ein Schriftsteller, sondern gleichzeitig ein angesehener Sprach- und Literaturwissenschaftler, der viele Jahre als Universitätsdozent in Oxford lehrte. Außerdem war er ein Vater und Ehemann, der seine knappe Freizeit gern mit der Familie verbrachte. (Für seine Kinder schrieb und zeichnete er viele Jahre „Briefe an den Weihnachtsmann“, die später veröffentlicht wurden und selbst in die Literatur eingingen.)
Schriftsteller, Dozent, Privatmann: Diese drei Aspekte seines Lebens waren Thema einer Ausstellung, die von der Bodleian Library in Oxford konzipiert wurde und zwischen dem 1. Juni und 28. Oktober 2018 standfand. In dieser Bibliothek hatte Tolkien zu Lebzeiten oft und gern gearbeitet. Viele seiner Manuskripte und Kunstwerke werden dort gesammelt, aufbewahrt und gezeigt. Der „Tolkien Estate“ arbeitet eng mit der Bodleian zusammen. So kam eine einmalige Schau oft nie präsentierter Stücke zusammen. Zur Ausstellung entstand ein Katalog, der aufgrund des Ruhms, den Tolkien auch hierzulande genießt, in kundiger deutscher Übersetzung vorliegt. In der Bodleian wird der Nachlass von der Bibliothekarin Catherine McIllwaine betreut. Sie zeichnet auch als Herausgeberin dieses Katalogs.
Ein (ge-) wichtiges Werk
416 Seiten ergeben ein Buch, das stolze 2 kg auf die Waage bringt - kein Wunder, denn hochwertiges Papier wurde bedruckt. Das Werk misst 25 x 27 cm, ist also etwas breiter als hoch. Dem eigentlichen Katalog gehen sechs Aufsätze („Essays“) voraus, die über bestimmte Tolkien-Aspekte näher informieren. Dazu gehören eine Kurzbiografie, eine Rekonstruktion des ‚Wegs nach Mittelerde‘ und Anmerkungen zu Tolkien als Zeichner und Maler. Der buchhandwerkliche Aufwand ist gerechtfertigt, denn es gilt, mehr als 300 oft filigran gezeichnete Kunstwerke mit feinen Entwurfsdetails, alte Fotos oder Manuskriptseiten zu zeigen. Diese Herausforderung wurde gemeistert, die Abbildungen sind jederzeit Augenweiden.
Dies gilt vor allem für die von Tolkien selbst gezeichneten oder gemalten Werke. Er hat schon vor dem Ersten Weltkrieg begonnen, Szenen aus Mittelerde zu zeichnen, weil ein Bild seine Vorstellungskraft oft stärker anregte als Worte. Tolkien drückte sich mit dem Pinsel, mit Buntstiften oder notfalls mit dem Kugelschreiber aus. Wenn die Muse über ihn kam, bemalte und beschrieb er, was gerade vor ihm auf dem Schreibtisch lag - leere Blätter, die Rückseiten universitärer Ankündigungen oder Briefe, Stundenpläne, notfalls die Ränder einer Zeitung. Auch großformatige Gemälde sowie Landkarten für die Mittelerde-Erzählungen entstanden. Sie sind in ausgezeichneter Qualität in diesem Katalog wiedergegeben.
Bis zu seinem Tod arbeitete und feilte Tolkien an der Vision ‚seiner‘ Mittelerde, die weit über den Ringkrieg hinausging; das komplexe, bewusst fragmentarische „Silmarillon“ bedeutete ihm mehr als die „Ring“-Bestseller. Die Idee eines komplexen, ‚künstlichen‘ Mythos‘, der eine in Vergessenheit versunkene Vorzeit aufleben lässt, war Tolkien im Rahmen seiner Studien altenglischer, isländischer und skandinavischer Sagen-Literatur gekommen. Seine Fachkenntnisse ermöglichten es, die Vision quasi wissenschaftlich zu gestalten. Dies ging so weit, dass Tolkien zahlreiche Mittelerde-Sprachen erfand, entwickelte, die er stetig verfeinerte, sowie eigene Schriftarten gestaltete: Auch hier bietet der Katalog erhellende Einblicke in Tolkiens Unterlagen.
Ein ruhiges, aber erfülltes Leben
Die meiste Zeit lebte verbrachte Tolkien arbeitsfleißig, aber scheinbar ereignislos in der Universitätsstadt Oxford. Der Katalog zeigt, dass hier relativiert werden muss. Als Jahrgang 1892 zog Tolkien in den Ersten Weltkrieg, erlebte den blutigen Stellungskrieg an der Somme (1916) und erkrankte mehrfach schwer. Die meisten Jugendfreunde starben an der Front. Tolkiens intensiven Beschreibungen von Krieg und Frieden vor allem im „Herrn der Ringe“ sind von seinen Kriegserlebnissen geprägt.
Da Tolkien keineswegs fotoscheu war, existieren viele Aufnahmen, die ihn ‚im Dienst‘ oder als Privatmann zeigen. Er war gern in Gesellschaft und lange Mitglied der „Inklings“, einer Gruppe von Poeten und Schriftstellern, die sich trafen und dabei ihre Werke vorstellten. Viele „Inklings“ wurden später berühmt, auch wenn nur einer etwa mit Tolkien gleichzog: Clive Lewis Staples (1898-1963), der selbst zum Weltenschöpfer wurde und die „Chroniken von Narnia“ (1950-1956) verfasste.
Im Rahmen der Ausstellung zeigte man sogar Möbel aus Tolkiens Arbeitszimmer, den Talar oder die Robe, den bzw. die er als Dozent trug. Man hat den Eindruck, mit Reliquien konfrontiert zu werden. Dies führt zur einzigen Negativkritik, die gegen das ansonsten prachtvolle Werk erhoben werden könnte: Tolkien, der Mensch, wird zum genialen, bescheidenen Intellektuellen, Phantasten und Mensch ohne Fehl und Tadel stilisiert: Als die Ausstellung und dieser Katalog entstanden, hielt Christopher Tolkien (1924-2020), langjähriger Mitarbeiter und Nachlassverwalter, noch scharf im Blick, was über seinen Vater gesagt und geschrieben wurde bzw. werden durfte. Wer sich nicht so sehr für Philologie interessiert, dürfte außerdem seine Probleme haben, den z. T. sehr spezifischen Essays - „Die Erfindung des Elbischen“ ist ein gutes Beispiel - zu folgen. Aber selbst der Tolkien-Aficionado sollte sich frei genug fühlen, solche Passagen zu überspringen …
Fazit:
Nicht einfach opulentes, sondern inhaltsreiches und informatives Werk, das die Tolkien-Ausstellung von 2018 als Katalog begleitete. Das Spektrum der präsentierten Bilder, Fotos, Manuskripte u. a. Stücke aus Tolkiens Nachlass ist eindrucksvoll, die Wiedergabe von durchweg hoher Qualität. Zentrale Aspekte werden zusätzlich in Aufsätzen erläutert: ein Genuss!
Catherine McIlwaine, Klett-Cotta
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