Die Differenz-Maschine

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1991
  • 2
Die Differenz-Maschine
Die Differenz-Maschine
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Michael Matzer
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJul 2006

Die Computer-Rebellen des 19. Jahrhunderts

William Gibson hat sich einen Ruf als Moralist der SF erworben, hier bestätigt er ihn. Zusammen mit Bruce Sterling vernichtet er den Mythos von einer heilsbringenden Herrschaft der Computer, ja die Vorstellung von einer Future History der Menschheit überhaupt. Daher sollte dieses Werk keinesfalls unterschätzt werden.

Sterling ist der eigentliche Wortführer ("Vincent Omniaveritas") des Cyberpunk und neben William Gibson und Walter Jon Williams der wichtigste Autor dieser postmodernen Richtung der Science Fiction. Seine Anthologie "Mirrorshades" (dt. als "Spiegelschatten", bei Heyne als Nr. 06/4544 erschienen) setzte seinerzeit Maßstäbe. Sie gilt als die beste und wichtigsten Anthologie der achtziger Jahre.

Dieser Roman ist dem sogenannten "Steampunk" zuzurechnen: Elektronik, Magie, Zeitreise, d.h. alle möglichen SF-Themen finden im 19. Jahrhundert statt in der Zukunft oder Gegenwart ihre Anwendung. Und im 19. Jahrhundert dient den Autoren das London von Charles Dickens als Schauplatz der Handlung.

Der Computer strebt die Weltherrschaft an

London im Smog, Mitte des 19. Jahrhunderts, in einer Parallelwelt. Das Computerzeitalter ist angebrochen, seit es dem berühmten Erfinder Charles Babbage 1821 gelungen ist, seine auf dem Lochkartensystem basierende "Differenz-Maschine" zu vervollkommnen. Dampfbetriebene Computer treiben die Industrielle Revolution voran, Großbritannien und Frankreich haben Europa untereinander aufgeteilt, ebenso den kolonisierbaren Rest der Welt. Eine goldenes Zeitalter?

Leider nein, denn die menschliche Natur ist die gleiche geblieben: Neid, Haß und Verrat gedeihen wie eh und je und verstricken die unterschiedlichsten Menschen in folgenreiche Ereignisse von Gewalt und Brutalität. An der Spitze der sozialen Pyramide: der skrupellose Wüstling Lord Byron als Premierminister einer technokratischen Regierung.

Da wäre zum Beispiel Sybil Gerard, die Tochter eines berüchtigten Ludditen, d.h. Maschinenstürmers – eine "gefallene Frau" und Edelprostituierte; und da wäre Edward Mallory, Entdecker, Paläontologe und Rekonstrukteur des Land-Leviathan; und da wäre Lady Ada Byron, die Tochter des Premierministers, ein mathematisches Genie und zwanghafte Glücksspielerin; und schließlich Laurence Oliphant, seines Zeichens Leiter der Geheimdienstabteilung des Außenministeriums, ein Diplomat und Drahtzieher.

Diese vier und viele weitere sind wider Willen gefangen im Netz einer Verschwörung, das Großbritannien mit dem Frankreich Louis Napoleons und Karl Marx' Kommune von Manhattan miteinander verbindet. Und es kommt noch dicker: Der Computer des Titels scheint auf dem besten Weg, ein Bewußtsein zu erlangen und die Weltherrschaft anzustreben…

Karl Marx in Manhattan

Großbritannien wird dargestellt als ein negatives Utopia, dessen sichtbare Verelendung und Verschmutzung die apokalyptischen Visionen, die Charles Dickens (z.B. aus "Hard Times") von einem industrialisierten Land hatte, widerzuspiegeln scheint. Dieses Land wird beherrscht von Berechnung, Berechenbarkeit, Bemessung und streng "praktischen" Erwägungen. Große Autobahnen für stinkende Automobile durchziehen das erstickende London; gigantische Hochäuser beherbergen die bürokratische Elite der Technokraten, die die MASCHINEN bedienen, das heißt die großen, dampfbetriebenen Lochkartencomputer. Hier wird der Maschinengott elektronisch erleuchtet, seine erwachendes Bewußtsein ist eine Bedrohung der gesamten Welt.

Dies verlangt geradezu nach einer Maschinenstürmerin wie Sybil Gerard. In der Jagd auf sie inszenieren die beiden Autoren ein wildes Autorennen quer durch die versmogte Innenstadt von London, mit einem fulminanten Showdown in den elenden Hafendocks, wo das Verbrechen blüht.

Für den Leser erweist es sich jedoch als großer Vorteil, wenn er schon viel über das viktorianische London und über die Arbeitsweise von Computern weiß. Dies verhilft zu etlichen ironischen Einsichten, die die Handlung und einige der Charaktere anbieten. Karl Marx nach Manhattan zu verfrachten und seine Kommune dort, in der Hochburg des Kapitalismus, einrichten zu lassen, ist schon ein starkes Stück.

Die Differenz-Maschine

William Gibson, Heyne

Die Differenz-Maschine

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