Tschernobyl
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 1988
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Chronik einer (unter diesen Umständen unvermeidbaren) Katastrophe
Ende der 1980er Jahre sieht sich die Sowjetunion als führende Nation auf dem Gebiet der friedlichen Atomnutzung. Überall schießen Kraftwerke aus dem Boden und sorgen für eindrucksvolle Leistungen bei der Erzeugung ‚sauberer‘ Energie. Ignoriert werden dagegen die Einwände (nicht nur) westlicher Fachleute, die auf die unzureichenden Sicherheitseinrichtungen hinweisen: „Glasnost“ steckt noch in den Kinderschuhen, weiterhin bestimmt die sozialistische Staatsdiktatur die Geschicke der UdSSR. Kritik ist verpönt, und es sind noch wesentlich leistungsstärkere Werke in der Planung.
Dabei gibt es Grund genug zur Besorgnis, wie Simyon Smin, stellverstretender Direktor des Atomkraftwerks Tschernobyl, nur zu gut weiß. Ständig liefert man minderwertiges Material für das Werk im Norden der Ukraine. Es stellt Strom in vier gewaltigen Reaktorblöcken her, die u. a. die Großstadt Kiew versorgen. Für die Arbeiter und Angestellten entstand Prypjat, eine Kleinstadt mit großzügiger Infrastruktur. Die Löhne sind höher als in anderen sowjetischen Städten, in Tschernobyl arbeitet man gern.
Um die Leistungsfähigkeit des Werks zu überprüfen, steht am 26. April 1986 ein komplexes Experiment an. Dafür wird die Notabschaltung deaktiviert - ein fataler Fehler, denn Reaktorblock 4 gerät außer Kontrolle, wird nicht ausreichend gekühlt und explodiert. Kilometerhoch ragt eine giftige Rauchsäule über Tschernobyl. Radioaktive Strahlung tritt aus und droht die Arbeiter im Werk und ihre Familien in Prypjat umzubringen.
In Moskau läuft die Parteimaschine auf Hochtouren - zunächst in alter, unguter Tradition und weniger, um die Unfallstelle zu sichern, sondern um die Katastrophe zu vertuschen. Fachleute aus dem Westen werden nicht hinzugezogen, die westlichen Nachbarstaaten nicht darüber informiert, dass eine radioaktive Wolke gen Europa zieht. Hastig und planlos versucht man das atomare Feuer zu löschen - und verzettelt sich, während sich der Radius der radioaktiven Verseuchung ständig erweitert. Bis die Angst vor einem internationalen Gesichtsverlust endlich der Erkenntnis weicht, dass man in Tschernobyl einen globalen Notfall provoziert hat, vergeht wertvolle Zeit, die zum Schaden vieler Menschen nicht mehr wettzumachen ist …
Halb vergessen, nie überwunden
Heute gehört die Katastrophe von Tschernobyl bereits zu den historischen Ereignissen, obwohl sie in keiner Weise überwunden ist und ihre Folgen die Menschheit womöglich ewig begleiten werden. Aus den Augen, aus dem Sinn, auch wenn von den Medien gern Bilder des gewaltigen Metall-Sarkophags gezeigt werden, der den zerstörten, unkontrolliert strahlenden Reaktor inzwischen abdeckt. Dabei war Tschernobyl einer der schärfsten Nägel, die in jenen Sarg geschlagen wurden, in dem man zumindest in Europa die atomare Stromerzeugung zu Grabe trug. Die potenziellen Schäden sowie die Probleme im Umgang mit dem ebenfalls strahlenden Atommüll sind zu groß, um zwischenfallfrei gemeistert zu werden.
Schon im Jahr nach dem ‚Unfall‘ veröffentlichte Frederik Pohl den Roman „Chernobyl“. Damit widmete sich ein prominenter, von der Kritik hochgeachteter Science-Fiction-Autor dem Thema. Pohl war kein Naturwissenschaftler, verfügte jedoch über das Talent, Fakten zu recherchieren, um sie dann informativ und unterhaltsam zu präsentieren. Das gleicht aus, dass Pohl nicht die Gesamtsituation überschauen konnte; viele Informationen sind erst im Laufe von Jahren ermittelt worden oder durchgesickert. Ein typischer Schnellschuss, mit dem Geld verdient werden soll, während das Thema noch die Massen bewegt, ist „Tschernobyl“ gewiss nicht.
Es ist erstaunlich, wie oft Pohl richtig lag. „Tschernobyl“ ist ein Roman, in dem reale Personen der Zeitgeschichte keine aktiven Rollen spielen. Pohl schuf fiktive Figuren, mit denen er die Ereignisse dramatisieren konnte, ohne sich biografisch festlegen zu müssen. Was Direktor Smin, Ingenieur Scherantschuk, Personalchef (und Regime-Spitzel) Chrenow oder Techniker Kalytschenko stellvertretend denken, reden und tun, darf man nicht auf die historische Goldwaage legen.
Fatale Ausblendung politisch gleichgültiger Naturgesetze
Pohl schrieb 1987 über eine noch existierende Sowjetunion. Dass sie trotz (oder wegen?) Gorbatschows „Glasnost“ schon in den letzten Zügen lag, konnte er nicht wissen. Nach vielen Putin-Jahren verstehen wir wieder besser, welcher beklemmende Dunst aus Angst, Lüge und Ausblendung bis 1991 über dem Land hing. Der Sozialismus war die einzig geltende Maxime, dem sich sogar die Naturgesetze beugen sollten. Da der seit 1917 vorausgesagte Sieg über den Kapitalismus des Westens einfach nicht gelingen wollte, wurden die oft selbstgemachten Probleme vor allem unterdrückt und ignoriert. Deshalb wollte niemand wissen, wie gefährlich das war, was man (nicht nur) in Tschernobyl trieb. Für Fehler fand man traditionell Sündenböcke, die man schlachten = öffentlich als „Versager“ und „Saboteure“ aburteilen und in Straflager schicken konnte. Selbstverständlich gab es in Tschernobyl ‚Beobachter‘, die nach Moskau meldeten, was nach Kritik oder gar Widerstand klang.
Die Folgen stellt Pohl in eingängigen Bildern vor: Selbst als Nr. 4 schon in Flammen steht und tödliche Strahlung spuckt, traut sich niemand, die übrigen drei Reaktoren ohne Weisung = Erlaubnis „von oben“ abzuschalten. Hätten sich nicht mutige Männer darüber hinweggesetzt, wären heute womöglich weite Teile Eurasiens unbewohnbar.
Während die Vorgeschichte und die Katastrophe selbst dicht und packend beschrieben werden, verliert Pohl in der zweiten Hälfte den roten Faden. Er weitet den Blickwinkel aus und bemüht sich, die noch junge „Glasnost“-Bewegung einzubeziehen. Tschernobyl gilt als Markstein der einsetzenden „Perestroika“, die der Verkrustung des Sowjet-Systems ein Ende bereiten sollte. Wie Pohl bereits ahnte und sich inzwischen bestätigt hat, gab es mehr als genug Gegner, die in der Diktatur ihre Nische gefunden hatten und auf ihre Macht keineswegs verzichten wollten. Pohl musste noch im Trüben fischen, um Verantwortliche zu identifizieren. Schon deshalb haben diese Passagen heute an Wirkung eingebüßt.
Happy-End? Von wegen!
1987 standen „Glasnost“ und „Perestroika“ wie die im Osten aufgehende Sonne am Himmel einer Welt, die sich kurz vor dem Dritten Weltkrieg wähnte. In den USA favorisierte Präsident Reagan das „Star-Wars“-Programm, das feindliche Raketen aus dem All heraus abfangen sollte. Auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs wurde atomar aufgerüstet. Tschernobyl nutzte Michail Gorbatschow als Signal für einen Vorstoß, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Bekanntlich kam es nach langen Verhandlungen zu einem wackligen, mehr und mehr ausfasernden, jedoch bis heute existierenden Stopp des Wettrüstens.
Ansonsten hat der Mensch wenig aus dem Tschernobyl-Desaster gelernt, wie der GAU im japanischen Fukushima 2011 bewies. Insofern hat sich Pohls in „Tschernobyl“ vorsichtig anklingender Optimismus bezüglich eines globalen Einsehens nicht bestätigt. Allerdings übersah er die Anzeichen nicht und sparte in seiner Kritik den Westen keineswegs aus. Atomkraft produziert nicht nur Energie und Strahlung, sondern auch eine mächtige Industrie, die sich wie die Tabakkonzerne nicht geschlagen geben will.
Als Autor routiniert, als Rechercheur so akkurat wie möglich schrieb Frederik Pohl einen Roman, der heute zu seinen Nebenwerken gezählt wird. „Tschernobyl“ ist ‚reale‘ Science Fiction: Was auch Pohl oft als (spannende) Apokalypse erfunden und erzählt hat, kann sich tatsächlich ereignen und hat sich wiederholt ereignet. In diesem Punkt hat sein Roman seine Aktualität (leider) behalten.
Fazit:
Frederik Pohl mischt (technisch so akkurat wie möglich recherchierte) Fakten und Fiktion - so sind die Hauptfiguren nicht real - zur plastischen Darstellung der Katastrophe von Tschernobyl, die 1986 zur radioaktiven Verstrahlung weiter Landstriche führte. Betont nüchtern, aber ungemein spannend verdeutlicht der Autor komplexe Vorgänge und ihre verhängnisvollen Folgen, wobei er über die Technik hinaus auch politische und gesellschaftliche Aspekte einbezieht: ein (leider) erstaunlich aktuell gebliebener Roman.
Frederik Pohl, Bastei-Lübbe
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