Gwendys Wunschkasten (Gwendy 1)

  • Heyne
  • Erschienen: Oktober 2017
  • 1
Gwendys Wunschkasten (Gwendy 1)
Gwendys Wunschkasten (Gwendy 1)
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Marcel Scharrenbroich
65°1001

Phantastik-Couch Rezension vonApr 2019

Wünsch. Dir. Was!

Ich will keine Schokolade, ich will lieber einen… Silberdollar?

Wir befinden uns wieder mal in Castle Rock. Jener unaufgeregten Kleinstadt im Bundesstaat Maine, in der wir uns schon langsam heimisch fühlen. Uriger und entspannter wären wohl nur ein Reihenhäuschen in der Elm Street, eine lauschige Übernachtung in Bates Motel, ein Camping-Trip an den Crystal Lake oder die jährliche Halloween-Sause im beschaulichen Haddonfield, Illinois.

Wir schreiben das Jahr 1974. Noch bevor Lehrer Johnny Smith durch ein „Attentat“ den Dritten Weltkrieg verhindert, Kuschel-Bernhardiner „Cujo“ Familie Trenton belagert und Leland Gaunt allerlei „brauchbare Sachen“ an seine Kundschaft bringt, lebt die zwölfjährige Gwendy Peterson (Gwendolyn + Wendy = Gwendy… das kommt davon, wenn Eltern sich nicht entscheiden können) in dem kleinen Örtchen mit prägender Zukunft. Mitten in der glühenden Sommersonne quält sich das Mädchen selbst, indem sie tagtäglich die Stufen der sogenannten Selbstmordbrücke, welche Castle Rock mit Castle View verbindet, hinaufrennt. Um besser in Form zu kommen. Um gegen ihre Pummeligkeit anzukämpfen. Um nicht mehr von Frankie Stone gehänselt zu werden… dem kleinen Scheusal. „Mugel“ nennt er sie… halb Mensch, halb Kugel. Durchgeschwitzt und völlig außer Puste erklimmt Gwendy die letzten Stufen und wird in der Nähe des Spielplatzes von einem Fremden angesprochen.

Der mysteriöse Mann in Schwarz mit der Melone auf dem Kopf, der lesend auf einer Bank sitzt, verwickelt Gwendy in ein Gespräch und scheint das anfänglich skeptische Mädchen bereits länger beobachtet zu haben. Er stellt sich als Richard Farris vor. Nachdem Farris Gwendy auf ihre Figur und dem augenscheinlichen Problem, das sie damit hat, anspricht, öffnet sich das Mädchen dem Fremden gegenüber und hält auch nicht mit ihrer Meinung über den pöbelnden Frankie Stone hinterm Berg. Der freundliche, aber immer noch seltsame Herr lässt Gwendy im Verlauf des weiteren Gesprächs wissen, dass sie die „Auserwählte“ sei. Auserwählt? Für was?

Unvermittelt holt Farris einen Beutel unter der Bank hervor und präsentiert dem neugierigen Mädchen den imposanten Inhalt: Es ist ein Kästchen. Aber nicht IRGENDEIN Kästchen… Farris‘ Kästchen ist aus edlem Holz und glänzend poliert. Zudem ist die Oberseite mit farbigen Knöpfen versehen, die paarweise in einer Farbe angeordnet sind: Hellgrün. Dunkelgrün. Orange. Gelb. Blau. Violett. Dazu kommen noch ein jeweils roter und ein schwarzer Knopf. An den Seiten des Holzkästchens sind zwei Hebel angebracht und an der Front befindet sich eine schlitzförmige Öffnung. Der Fremde erklärt Gwendy, dass ein Hebel, sobald man diesen betätigt, kleine Schokoladentierchen zu Tage fördert. Fein gearbeitet, bis ins kleinste Detail und schmackhafter als jede andere Schokolade. Zudem sättigt sie ungemein, was dem ambitionierten Mädchen, das mit ihrer quälenden Rennerei auf der Selbstmordtreppe ihr Gewicht unter Kontrolle bringen möchte, perfekt in die Karten spielt. Der Hebel auf der anderen Seite lässt eine Silbermünze erscheinen. Jeder dieser Morgan-Dollar – eine 1-US-Dollar-Münze aus Silber – funkelt und stammt immer aus dem Jahr 1891. Die bunten Tasten-Paare stehen laut Mr. Farris für die Kontinente: Asien. Afrika. Europa. Australien. Nordamerika. Südamerika. Die rote Taste steht hingegen für jeden Ort, den der Besitzer des Kästchens sich wünscht. Der schwarze Knopf umfasst ALLES. Seine Betätigung hätte Einfluss auf die ganze Welt. Doch… was würde passieren, wenn Gwendy eine dieser Tasten drücken würde? Diese Antworten bleibt Richard Farris ihr schuldig. Bevor er verschwindet und Gwendy mit ihrem neuen Besitz allein lässt, gibt er ihr nur noch mit auf den Weg, dass sie – als beste Wahl für den Kasten – nun eine große Verantwortung hätte und dass sie diesen gut verstecken sollte. Außerdem darf sie mit NIEMANDEM über den „Wunschkasten“ reden.

Da steht Gwendy Peterson nun… 12 Jahre alt… eine Holzbox, die Schokolade und Silber-Dollar auf Knopfdruck ausspuckt in Händen… bunte Knöpfe, die Gott-weiß-was verursachen könnten vor den Augen… und unzählige Fragen, zu denen sie vielleicht nie Antworten bekommen wird, in ihrem überforderten Kopf. Wie lange kann sie dem „Wunschkasten“ wiederstehen?

Sie müssen nur den Nippel durch die Lasche ziehen…

Ich bin ganz ehrlich… hätte der Knilch mit dem Hütchen MIR den Kasten als Zwölfjährigen vor die Nase gestellt, hätte ich mit ziemlicher Sicherheit alle Knöpfe bis zum Anschlag durchgedrückt, bevor der Knabe auch nur seinen ersten Satz beendet hätte. Mehrfach! Verdammt… ich würde es sogar HEUTE noch tun!

Die Idee, mit einem Kästchen, welches große Verantwortung auf seinen Besitzer ablädt, ist nicht unbedingt neu… lässt aber immer wieder tief in diejenigen blicken, die mit ihm hantieren. Was das über MICH aussagt, lasse ich jetzt mal so im Raum stehen… Anfang 2010 erschien bei uns der Science-Fiction-Film „The Box – Du bist das Experiment“. Mit Cameron Diaz, James Marsden und Frank Langella prominent besetzt, wird hier einer scheinbar willkürlichen Familie eine mysteriöse Box übergeben. Der Fremde, der die Box überreicht, stellt der Familie eine Million US-Dollar in Aussicht, sollten sie innerhalb von 24 Stunden den großen Knopf drücken, der die Kiste ziert. Der Tastendruck würde jedoch bewirken, dass irgendwo auf der Welt ein Mensch sterben muss. Dieser wäre der Familie zwar unbekannt, stürzt die Beteiligten jedoch in ein moralisches Dilemma. Einerseits käme die Finanz-Spritze ihnen sehr gelegen, anderseits aber… tja. Was also tun? Und vor allem… warum?

„Donnie Darko“-Regisseur Richard Kelly adaptierte für „The Box“ die Richard Matheson-Kurzgeschichte „Button, Button“ aus dem Jahr 1970, die auch schon Pate für eine Folge der Mystery-Serie „The Twilight Zone“ stand. Einem ähnlichen moralischen Konflikt sieht sich auch die Protagonistin in „Gwendys Wunschkasten“ konfrontiert. Sie weiß, dass die bunten Tasten für Kontinente stehen. Was würde also passieren? Dass es dort nicht Konfetti regnet, sollte sie Knöpfe nur kräftig genug drücken, kann sich sogar eine Zwölfjährige mühelos zusammenreimen. Wird der jeweilige Kontinent ausradiert? Verschwindet er mir-nichts-dir-nichts von der Landkarte? Und… sollte sie die schwarze Taste betätigen… was dann? Weltuntergang??? Richard Farris hatte nicht gelogen. Die Verantwortung, die auf Gwendys jungen Schultern lastet, ist immens. Unvorstellbar immens.

Verdammt, ich will jetzt auch so einen Kasten, dann… !

Und als ich mal nicht weiterkam, ich einfach Richard Chizmar nahm.

„Gwendys Wunschkasten“ ist kein vollwertiger Roman aus der Feder von Stephen King. Zum einen, weil der Umfang mit rund 125 Seiten extrem überschaubar ist und somit eher als Novelle – oder ausgedehnte Kurzgeschichte – durchgeht, zum anderen, da King hier nicht alleine am Werk war. Richard Chizmar, seines Zeichens Herausgeber von „Cemetery Dance Publications“ und selbst Autor diverser Kurzgeschichten, stand dem Vielschreiber mit Rat und Tat zur Seite. Zufällig erschien „Gwendy’s Button Box“, wie das Werk im Original heißt, auch gleich bei Chizmars „Cemetery Dance Publications“.

Gemeinschaftswerke sind im Œuvre von Mr. King eher selten vertreten. Bis auf seine Zusammenarbeiten mit Peter Straub an „Der Talisman“ und „Das schwarze Haus“, der Kurzgeschichte „Ein Gesicht in der Menge“ mit Stewart O’Nan, dem Vater/Sohn-Projekt „Sleeping Beauties“ mit Owen King und einem Abstecher ins Comic-Genre, wo er zusammen mit Autor Scott Snyder („Batman: Der schwarze Spiegel“, „Batman Metal“, „Wytches“) und Top-Zeichner Rafeal Albuquerque an „American Vampire“ werkelte, ist der „Meister des Horror“ eher auf Solopfaden unterwegs.

Interessant an „Gwendys Wunschkasten“ ist, dass King es in dieser Geschichte geschafft hat, sich in eine erzählerische Sackgasse zu manövrieren, aus der er ohne Navi (hier in Form von Richard Chizmar) nicht mehr heraus fand. Chizmars Impulse lenkten die Story in eine neue Richtung und halfen King, die Erzählung von Gwendy, die sich von dem zwölfjährigen Mädchen, welches frisch in den Besitz des „Wunschkastens“ gelang, bis zur herangewachsenen Frau, die ihr Studium beendet, erstreckt, zu einem gelungenen Abschluss zu führen. Wie hoch Chizmars Anteil an dem Gesamtwerk ist, lässt sich nur mutmaßen. Fest steht jedoch, dass es sich um ein inhaltliches Gemeinschaftsprojekt handelt.

Ein paar Worte noch zur optischen Aufmachung des „Büchleins“: So überschaubar „Gwendys Wunschkasten“ auch ist, der Heyne Verlag hat sich dennoch nicht lumpen lassen, dem Mini-Roman ein ansprechendes Äußeres zu verleihen. Besonders löblich ist, dass die kleine Story als Hardcover veröffentlicht wurde, welches optisch an den „Wunschkasten“ angelehnt ist… inklusive gemaserter Oberfläche, die an altes Holz erinnert und geprägten Spotlack-Highlights, in Form der Schokoladen-Tierchen und der glänzenden Morgan-Dollar. Sehr ansprechend und verspielt!

Fazit:

Die Ausgangssituation, einem zwölfjährigen Kind eine dermaßen große Verantwortung aufzubürden, dass es möglicherweise globale Eskalationen durch einen Knopfdruck herbeiführen könnte, übt schon einen gewissen Reiz aus (nicht wahr, Donald?) und macht zu Recht neugierig. Jedoch legen die Autoren hier einen höheren Wert auf den Werdegang der Protagonistin und ihre inneren Konflikte. So wird aus „Gwendys Wunschkasten“ eher eine jugendtaugliche Coming-of-Age-Geschichte, die zwar phantastische Elemente einstreut, aber leider auch viele Chancen und „WOW“-Momente liegenlässt… ich wollte nicht „WTF“-Momente schreiben, deshalb „WOW“. Ups…

Gwendys Wunschkasten (Gwendy 1)

Richard Chizmar, Stephen King, Heyne

Gwendys Wunschkasten (Gwendy 1)

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