Das sechste Erwachen

  • Heyne
  • Erschienen: Juni 2018
  • 1
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonNov 2018

Mörder & Opfer neu belebt, aber ohne Gedächtnis

Schon viele Jahre dauert die Reise des Raumschiffs „Dormire“, dessen Besatzung einen fernen Planeten kolonisieren soll. Die 2000 Passagiere liegen im Kälteschlaf; gespeichert sind außerdem 500 „Mindmaps“, die Körper und Geist von Menschen beinhalten. Man hat sie geklont; am Zielort werden sie mit allen Erinnerungen an das oder die früheren Leben ‚wiedergeboren‘. Sechs ‚körperliche‘ Klone fungieren als Besatzung und sorgen zusammen mit der Künstlichen Intelligenz IAN dafür, dass der Flug der „Dormire“ reibungslos verläuft.

Im Juli des Jahres 2493 erwachen diese sechs Personen in ‚frischen‘ Körpern, aber ohne Erinnerungen an die jüngere Vergangenheit. Sie entdecken ihre grausam ermordeten Klon-‚Vorgänger‘. IAN wurde außer Gefecht gesetzt, der Kurs der „Dormire“ geändert, die Technik sabotiert. Es können keine Klone mehr produziert werden. Wer nun stirbt, kann nicht wieder in ein neues Leben zurückkehren. Was ist geschehen? Die Antwort auf diese Frage wird lebenswichtig, als feststeht, dass einer der sechs Klone vor der ‚Wiedergeburt‘ seine Bordkameraden umgebracht hat und dabei selbst zu Tode kam. Wer immer es war, wird seine Mordpläne womöglich im neuen Körper weiterverfolgen.

Kapitänin Katrina de la Cruz, Pilot Akihiro Sato, Wartungstechnikerin Maria Arena, Ärztin Joanna Glass, Chefingenieur Paul Seurat und Sicherheitschef Wolfgang müssen als Team die Indizienfragmente zusammenfügen, dürfen einander jedoch nicht trauen, was die Situation erwartungsgemäß aufheizt. Das gegenseitige Misstrauen steigt, als sich herausstellt, dass sämtliche Mitglieder der Gruppe Schwerverbrecher sind. Die Lösung des mörderischen Rätsels liegt in einer Vergangenheit verborgen, die Stück für Stück enthüllt wird - dies jedoch womöglich zu spät ...

Massenmord mit Vorgeschichte

Generationsraumschiffe sind viele Jahre unterwegs. Wahlweise bleiben Besatzung und Passagiere entweder wach, um sich zu vermehren und irgendwann zu sterben, woraufhin eine Enkelgeneration dereinst dein fernen Zielplaneten besiedelt, oder sie lassen sich einfrieren, um dies selbst in Angriff zu nehmen, indem sie sich kurz vor der Landung auftauen lassen.

Beide Konzepte lassen Raum für potenzielle Zwischenfälle. Technik ist nie perfekt, sondern neigt zu Ausfällen; Außerirdische tauchen auf und kommen an Bord; das Weltall selbst sorgt für Reiseprobleme, indem es einen Meteoriten auf Kollisionskurs bringt oder eine Raum-Zeit-Falte öffnet. An erster Stelle der gefährlichen Eventualitäten steht für Science-Fiction-Autoren jedoch seit jeder der Faktor Mensch. Der ist bekanntlich sein schlimmster Feind und quasi spezialisiert darauf, die Hölle (nicht nur) auf Erden zu entfesseln.

Diesem Fahrwasser folgt auch Mur Lafferty, der es dabei gelingt, einem recht ausgelaugten Plot eine Frischzellenkur zu verschaffen. Üblicherweise sorgt die Reisezeit für Konflikte auf einem (fiktiven) Generationsraumschiff. Dieses Problem ist hier nicht akut. Lafferty friert die Passagiere = zukünftigen Siedler ein. Sie bleiben in ihren Kühlkammern oder Gedächtnisspeichern und für die Handlung ohne Bedeutung. Stattdessen konzentriert sich die Autorin auf die Besatzung, die sie uns mit einem Donnerschlag vorstellt: Die zwei Frauen und vier Männer erwachen aus dem Kälteschlaf - und sind umgeben von ihren eigenen Leichen!

Kopieren als Klonen auf die Spitze getrieben

Die Menschen der Zukunft können sich klonen lassen. Da sich außerdem Gedächtnisse aufzeichnen und auf ‚neue‘ Gehirne ‚überspielen‘ lassen, erwacht man als Klon jung, gesund und mit den Erinnerungen an das oder die frühere/n Leben. Dass dieses theoretisch verlockende System alles andere als perfekt ist, führt uns Lafferty auf knapp fünfhundert Buchseiten vor Augen, wobei sie alle möglichen (und einige unmögliche, d. h. dem Leser unbekannte) Komplikationen durchspielt.

„Das sechste Erwachen“ orientiert sich vor allem in den Auftaktkapiteln am klassischen Kriminalroman: Ein (Massen-) Mord wird begangen, der Tatort ist von der Außenwelt isoliert, weshalb eine/r der erwachten Klone das Verbrechen begangen haben muss. Zukünftige Überwachungs-Hightech wird von der Autorin einfallsreich ausgeschaltet, weshalb die Überlebenden auf Indiziensuche und -auswertung setzen und mit Methoden ermitteln müssen, die aus einer fernen, analogen Vergangenheit stammen.

Weil der Mörder Teil der Ermittlergruppe ist, gewinnt dies an Spannung: Sollten die Aufklärer der Wahrheit nahekommen, ist damit zu rechnen, dass der Täter den scheinbaren Gefährten ein gewaltsames Ende beschert, um der Entlarvung zu entkommen. Lafferty dreht an dieser Schraube, indem sie eine Zukunft postuliert, in der man in der Lage ist, Gehirninhalte nicht nur zu kopieren, sondern zu manipulieren: Gelöscht wurden nicht nur die Erinnerungen der „Dormire“-Besatzung an die Zeit vor ihrem Ende, sondern auch das Wissen des Mörders, ein Mörder zu sein. Erst bestimmte Außenreize sorgen dafür, dass sich ein tief ins Hirn geprägtes bzw. programmiertes Verhalten buchstäblich Bahn bricht. Bleiben diese „Trigger“ aus, bleibt der Täter ein Besatzungsmitglied, das wie seine Gefährten rätselt, was geschehen ist.

Die Übermacht der Vorgeschichte

Der primäre Handlungsstrang spielt an Bord der „Dormire“. Im Zuge der Ermittlungen in eigener Sache blendet Lafferty jedoch immer wieder auf die Vergangenheit zurück, die auf der Erde spielt. Dort finden sich Motiv und Auslöser für das spätere Verbrechen. Die Autorin erweitert in diesen Rückblenden den Blickwinkel. Aus einem Science-Fiction-Rätselkrimi wird ein ‚echter‘ SF-Roman: Die Ereignisse auf der „Dormire“ sind Konsequenzen einer globalen Krise.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Klonen, das Lafferty als eine jener (technischen) Errungenschaften beschreibt, die den Menschen sozial und ethisch überfordern. Was man als Möglichkeit entwickelte, ein quasi ewiges, gesundes und von Altersgebrechen freies Leben zu führen, wurde umgehend instrumentalisiert und missbraucht: von religiösen Fanatikern, Verbrechern und machtgierigen Politikern. Der „Mensch nach Maß“ glückte zudem nicht auf Anhieb. Hinter sich ließen Forscher und Mediziner eine breite Spur ‚missglückter‘ Klon-Experimente.

Da sich nur die (Einfluss-) Reichen die Wiedergeburt leisten können, öffnete sich die Schere zwischen den Klonen und den ‚richtigen‘ Menschen immer weiter, bis es schließlich zu einem Bürgerkrieg kam. Seitdem herrscht zwischen Klonen und Menschen ein labiler Waffenstillstand, während unter der Oberfläche mit allen (kriminellen) Mitteln weiter um die Vorherrschaft gefochten wird. Vor diesem Hintergrund, den Lafferty nach und nach sowohl ihren Protagonisten als auch den Lesern enthüllt, gewinnt der Raumflug der „Dormire“ eine völlig neue Dimension.

Fragwürdige Wunder der Zukunft

Die Rückblenden bieten der Autorin eine gut genutzte Möglichkeit, ihre Figuren ausführlich zu charakterisieren, ohne dadurch in den Anfangskapiteln auf die Bremse zu treten. Die Handlung setzt mit Macht ein und setzt sich zügig fort, wobei die eingeschobenen Rückblicke für Zusatzinformationen sorgen, die den Lesern helfen, das Gesamtbild zu erkennen.

Wie es sich für einen (SF-) Roman des 21. Jahrhunderts gehört, gibt es keine ‚Helden‘ oder ‚Schurken‘. Grau ist der Farbton, wenn man die Figurencharaktere beschreiben möchte. Sie haben alle Dreck am Stecken, sind Täter und gleichzeitig Opfer, was den oder die Mörder/in einschließt. Auf diese Weise kann Lafferty auf mehreren Ebenen mit den Erwartungen ihres Publikums spielen: Immer wieder schießt sie sich auf eine/n Verdächtige/n ein, um umgehend neue Verdachtsmomente zu präsentieren. Lafferty kümmert sich wenig um wissenschaftliche Wahrscheinlichkeiten, sondern stellt vor allem die Kopie-Hightech einfallsreich in den Dienst der Handlung. Dabei gelingen ihr wie schon erwähnt ungewöhnliche Wendungen, die einer an sich stringenten Story zusätzliche Schubenergie verschaffen.

Das Geschehen wird zufriedenstellend aufgelöst - und macht eine Fortsetzung problemlos möglich; selbstverständlich, muss man heutzutage sagen. Ungeachtet dieser Drohung ist Mur Lafferty mit „Das sechste Erwachen“ ein unterhaltsamer, kurzweiliger Roman in einem Genre gelungen, dessen Fans mehr gutes Handwerk wie dieses verdienen.

Das sechste Erwachen

Mur Lafferty, Heyne

Das sechste Erwachen

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