Sleepy Hollow
- Heyne
- Erschienen: Januar 2000
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Ratloser Kriminalist jagt kopfloses Gespenst
Ichabod Crane, Constable bei der Polizei von New York City, hat sich in seiner kurzen Dienstzeit bereits viele Feinde gemacht. Seine Vorgesetzten missbilligen den Eifer, mit dem der junge Mann dem Verbrechen wissenschaftlich auf den Grund zu gehen pflegt, während sie dem gesunden Menschenverstand, der eigenen Erfahrung und vor allem einer ergebnisorientierten Mischung aus Misstrauen, Vorurteilen und Gleichgültigkeit den Vorzug geben. Im Winter des Jahres 1799 reißt Cranes oberstem Dienstherrn, dem Bürgermeister von New York, der Geduldsfaden. Er schickt Crane weit fort gen Norden in das einsame Dörfchen Sleepy Hollow. Dort wurden binnen vierzehn Tagen drei brave Bürger zu Tode gebracht, indem man ihnen die Köpfe abschlug, welche spurlos verschwunden sind. Crane soll den Fall lösen - und endlich den Wert seiner Ermittlungsmethoden und Instrumente unter Beweis stellen!
Sleepy Hollow wird hauptsächlich von den Nachfahren niederländischer Siedler bewohnt. Baltus van Tassel, der reiche Gutsherr, bildet mit Bürgermeister Philipse, Notar Hardenbrook, Dr. Lancaster und Pfarrer Steenwyk ein ebenso einflussreiches wie undurchsichtiges Quintett, das in Sleepy Hollow den Ton angibt und sichtlich viel zu verbergen hat. Auch Lady van Tassel, die zweite Gattin des Gutsherrn, spinnt ihre eigenen Intrigen, in denen sich Crane zu verfangen droht. Der Städter hat es ohnehin schwer in Sleepy Hollow. Die Menschen sind ihm fremd, der Fall bleibt ein Rätsel. Freundliche Gefühle (und bald mehr) bringt ihm nur die schöne Katrina van Tassel, Tochter des Gutsherrn und Stieftochter der Lady, entgegen.
Bald schlägt der kopflose Reiter wieder zu. Crane stellt fest, dass der Mörder tatsächlich ein Gespenst ist - der „Hesse“, ein Söldner, der seine Seele dem Teufel verkauft hat und nun umgehen muss. Freilich mordet der furchtbare Reiter nicht aus freien Stücken: Ein Mensch hat Macht über ihn. Die Spur führt Crane zurück in die Wirren des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs - und unter die Honoratioren von Sleepy Hollow, die mehr über den Spuk wissen, als sie zugeben wollen ...
Abschöpfen
„Sleepy Hollow“ - das war im Jahre 1999 ein neuer Film des ebenso genialen wie versponnenen Regisseurs Tim Burton, der zuvor Phantastik-Meisterwerke wie „Edward mit den Scherenhänden“, zwei „Batman“-Blockbuster oder die SF-Satire „Mars Attacks!“ gedreht hatte. Der „Sleepy-Hollow“-Roman ist eher ein Nebenprodukt bzw. ein Steinchen in einem globalen Marketing-Mosaik. Mancher Film spielt über das Merchandising mehr Geld ein als in den Kassen klingelt.
In dieses Umfeld fügt sich der Autor ein. Peter Lerangis war bereits vor dem Millennium ein Lohn- und Vielschreiber. Seine Werke sichern ihm keine vorderen Ränge unter den Meistern des unheimlichen (oder sonstigen) Romans. Er produziert ‚Verbrauchsliteratur‘, die schnell verkauft werden muss, bevor das Interesse des Publikums wieder erlischt, und verdient daran, weil er schnell liefern kann.
„Sleepy Hollow“, der Roman zum Film, hält sich erwartungsgemäß sehr eng ans Drehbuch - was in diesem Fall nicht von Nachteil ist - und hakt brav, oder Schwung ab, was auf der Leinwand ungleich eindrucksvoller wirkt: „Sleepy Hollow“ ist ein Film, der mindestens so stark von Stimmungsbildern lebt wie von seiner Handlung. Atmosphäre lässt sich zwar auch literarisch erzeugen, doch Autor Lerangis verfügt nicht über die Muße (oder die Fähigkeit), es wenigstens zu versuchen. Immerhin liest sich „Sleepy Hollow“ flott und schnell - eine nette Feierabendlektüre für einen dunklen Wintertag.
Vergleichen
Ein gutes Stück über das Mittelmaß hebt „Sleepy Hollow“ eine Idee, die der deutsche Verlag wahrscheinlich vom Original übernommen hat: Die Geschichte vom verfluchten Dorf und dem bösen Hessen ist keine ureigene Schöpfung des Regisseurs Tim Burton, sondern basiert auf einer Geschichte des Schriftstellers Washington Irving (1783-1859). Sie findet sich ebenfalls im vorliegenden Band.
„Die Sage von der schläfrigen Schlucht“ (auch - und schöner - übersetzt als „Die Legende vom schläfrigen Tal“) ist Teil des „Skizzenbuchs des ehrenwerten Geoffrey Crayon“ (1817/19) und ging in den amerikanischen Sagenschatz ein. Irving zählt zu den frühen Meistern der Kurzgeschichte; eine Literaturform, die sich Anfang des 19. Jahrhunderts erst allmählich in ihrer modernen Form auszuprägen begann.
Die Möglichkeit, Original und Neufassung direkt vergleichen zu können, ist reizvoll. Freilich spricht die Tatsache für sich, dass Irvings beinahe zwei Jahrhunderte alte Vorlage - inhaltlich und formal verstaubt, wie sie ist - den Sieg davonträgt. Ebenso klar werden die Veränderungen, die diese Geschichte auf ihrem Weg ins Kino genommen hat: Irvings Ichabod Crane überlebt seine Begegnung mit dem kopflosen Reiter womöglich nicht. Auch eine Hochzeit mit der schönen Katrina bleibt aus. (Sie heiratet stattdessen einen schlauen Dörfler namens Brom Bones, der im Film von 1999 als „Brom van Brunt“ nur eine Nebenrolle spielt.) Ein solches Ende ist natürlich keineswegs nach Hollywoods Geschmack, besonders wenn die genannten Figuren von Johnny Depp und Christina Ricci verkörpert werden!
Vertiefen
Erwartungsgemäß wurde die Vorlage in Hollywood trivialisiert und zugespitzt. Bewahrt hat Regisseur Tim Burton den von Irving schon Anfang des 19. Jahrhunderts festgestellten und beklagten Kontrast zwischen dem friedlichen, traditionsbewussten, ‚gesunden‘ Land und der hektischen, leistungs- und konsumorientierten, die Ideale der Vergangenheit ignorierenden Stadt. Ichabod Crane kommt als Störenfried nach Sleepy Hollow. Obwohl liebenswert naiv gezeichnet, denkt er fortschrittlich und geht seine Nachforschungen wissenschaftlich an.
Dass Crane in Sleepy Hollow in eine wahre Schlangengrube stürzt, ist eine (ironische) Ergänzung des Films. Das kleine Dorf ist Schauplatz eines Spuks, doch hier hausen auch nur äußerlich ulkige, dicke Spießbürger, die buchstäblich Blut an ihren auch sonst gierigen Fingern haben. Dazu passt, dass sie im erst wenige Jahre zurückliegenden Unabhängigkeitskrieg um des eigenen Vorteils willen mit dem Feind paktiert haben, was definitiv keine lässliche Sünde ist. (Apropos: Irving war mehr Profi als Romantiker, weshalb er sich für sein Garn kräftig bei anderen, ungenannt bleibenden Autoren bediente; vor allem plünderte er die europäische Rübezahl-Legende.)
Andererseits ist Irvings Ichabod Crane deutlich unsympathischer als der ‚reine Tor‘, den Tim Burton uns vorstellt. Letzterer stolpert in der Regel zufällig dorthin, wo die Bewohner von Sleepy Hollow ihn lieber nicht sähen. Dass ihm an der Wende zum 21. Jahrhundert - die Furcht vor dem Millennium spiegelt Burton wider, indem er Crane in den letzten Wochen des 18. Jahrhunderts nach Sleepy Hollow schickt - eine Frau zur Seite steht, erfordert die moderne Dramaturgie, die auch in Geschichten aus präfeministischer Zeit tatkräftige Weiblichkeit erzwingt, um die Doppel-X-Fraktion des zahlenden Publikums nicht zu verprellen. Irvings Katrina van Tassel ist jedenfalls dick und träge und gerade deshalb aus zeitgenössischer Sicht begehrenswert.
Überspitzen
„Die Sage von der schläfrigen Schlucht“ markiert auch die Frühzeit der Geistergeschichte. „Gotischen“ Horror gab es schon länger, und der kopflose Reiter fügt sich gut in die Runde der Schauergestalten ein, die in diesem Genre ihr Unwesen trieben. Zu der Zeit, als Irving seine Erzählung schrieb, neigte sich ihre Ära allerdings schon dem Ende zu. Der Schrecken wurde ‚psychologischer‘, was Burton nutzt, um seinen Film mit einschlägiger Symbolik förmlich zu tränken - und mit Blut!
„Sleepy Hollow“ ist in dieser Hinsicht ein sehr moderner Horrorfilm. Der „Hesse“ schlägt Schädel in Serie und Großaufnahme ab. Auch sonst gibt es allerlei Scheußlichkeiten zu sehen, an die Washington Irving nicht zu denken gewagt hätte. Ebenfalls deutlicher als in der Vorlage sind die Eigentümlichkeiten der Figuren herausgearbeitet. Vor allem die Oberschicht von Sleepy Hollow ist körperlich grotesk anzuschauen, was durch entsprechende Kostüme - die keineswegs fadentreu die Kleidung der Originalepoche kopieren - unterstrichen wird.
Insofern ist „Sleepy Hollow“ ein Film, der zwar ausgezeichnet unterhält, darüber hinaus jedoch verschiedene Meta-Ebenen aufweist. Solche ‚Zwischentexte‘ können im Film visualisiert werden, und Tim Burton ist ein Meister darin. Peter Lerangis kann ihm im „Roman zum Film“ zwar beschreibend folgen, ohne jedoch die Deutlichkeit der Vorlage zu erreichen. Sein Werk erregt jenseits durchschnittlichen Zeitvertreibs immerhin den Wunsch, nach der Lektüre besagten Film wieder einmal (oder womöglich zum ersten Mal) anzusehen, was auch eine Leistung darstellt.
Peter Lerangis, Heyne
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