„Es“ gefriert das „Blut“ und der „Puls“ fährt „Achterbahn“
Heute ein König
Idyllische Kleinstädte haben es dem Vielschreiber und wohl unumstrittenen „Meister des Horror“ Stephen King anscheinend angetan. So gut wie jede seiner Geschichten spielt sich in lauschigen Vororten, familiär wirkenden Gemeinden und in vertrauter Nachbarschaft ab. Meist abgegrenzt vom lauten Leben in pulsierenden Metropolen und eingebettet in einen eigenen Mikrokosmos. In niemals schlafenden Städten, wie Los Angeles, New York City oder Vegas, hätte Kings Horror nicht die erwünschte Wirkung. Würde sang- und klanglos ungehört bleiben, zwischen nächtlichen Partys, rauschenden Exzessen und Polizeisirenen, die die Nacht im Minutentakt erhellen und grell kreischend jeden Anflug von Stille verdrängen. Hier könnte ein Pennywise zu jeder Tageszeit über den Walk of Fame flanieren, ohne dass überhaupt Notiz von ihm genommen wird. Ein wahnsinnig blickender Jack Torrance würde in der Masse griesgrämiger Banker, Broker und weiß der Teufel was unbemerkt untergehen. Selbst die Tommyknockers könnten für Härtefälle gehalten werden, die aus der hinterletzten Meth-Höhle gekrochen kommen, um das seltene Tageslicht zu erblicken und würden von Smartphone-fixierten Passanten wohl nur als Randnotiz wahrgenommen werden.
Nein, die Welt von Stephen King findet im Kleinen statt, im Vertrauten. Das Ländliche, das sympathisch Idyllische bietet den optimalen Nährboden für phantastische Auswüchse, unsichtbare Bedrohungen und Schauermärchen, die uns den Schlaf rauben. Ein simples Maisfeld, dessen Anblick eigentlich eine friedliche, meditative Ruhe im Auge seines Betrachter ausstrahlt, wird beim Autor zum bedrohlichen Massengrab, das seine Opfer verschluckt und zudem eine unvorstellbare Macht beheimatet. Das kleine, fiktive Städtchen Castle Rock, welches immer wieder Dreh- und Angelpunkt im King-Kosmos ist, hat bereits mehr kranke Gestalten hervorgebracht als Hollywood auf den mit Sternen gepflasterten Gehweg spucken könnte. Nimmt man die gedruckten Worte des Schriftstellers für bare Münze, sollte man um den Bundesstaat Maine sowieso einen GANZ großen Bogen machen.
Hier entsteht das Grauen. An Orten, wo Jeder mit Jeden vertraut ist. Wo Nachbarn Freunde sind und der Eine die tiefsten Geheimnisse des Anderen kennt... oder zu kennen glaubt. Diesmal bleibt Maine allerdings verschont. Vorerst. Diesmal geschieht das Unvorstellbare in Oklahoma... genauer gesagt, in Flint City. Einer Kleinstadt.
Meine teuflischen Nachbarn
Terry Maitland ist einer dieser Leute. Als Englischlehrer und Trainer der örtlichen Baseball-Jugendmannschaft genießt der zweifache Familienvater und liebende Ehemann das Vertrauen der Bürger von Flint City. Ein wertgeschätztes Mitglied der Gemeinde mit einer blütenweißen Weste... zumindest bis dunkle Flecken sich auf dieser bilden. Blutrote Flecken. Flecken, die von den Leuten gesehen werden, die Terry kennt. Von Leuten, die Terry kennen... zumindest dachten sie das, bis zu jenem schicksalsträchtigen Tag.
Die bestialisch zugerichtete Leiche eines elfjährigen Jungen wird aufgefunden. Verstümmelt, missbraucht, übersät mit Bisswunden. Unmenschlich gepfählt mit einem Holzstamm. Ein Verdächtiger ist schnell ausgemacht, zumal gleich mehrere Aussagen übereinstimmen und Zeugen Coach T – wie Terry Maitland gerne von seinen Schützlingen genannt wird – mit blutverschmierter Kleidung am Tatort gesehen haben wollen. Obwohl niemand dem Vater zweier Töchter ein derartiges – oder überhaupt irgendein – Verbrechen zugetraut hätte, können alle Befragten eindeutig Terry Maitland identifizieren. Der leitende Detective Ralph Anderson, dessen Sohn ebenfalls von Coach T trainiert wird, ordnet mithilfe der Staatsanwaltschaft die sofortige Verhaftung Maitlands an. Eine Verhaftung, die in aller Öffentlichkeit und medienwirksam zelebriert wird... mitten bei einem gut besuchten Baseball-Spiel. Vor den Augen seiner Frau und dem anwesenden Großteil der Einwohner Flint Citys wird der einst gern gesehene Terry abgeführt.
Der Beschuldigte versteht die Welt nicht mehr, ist sich sicher, dass es sich um einen Irrtum handelt. Es MUSS sich um einen Irrtum handeln. Noch ist er guter Dinge, dass die abstrusen Anschuldigungen gegen ihn bald fallengelassen werden und die Zweifel sich lichten. Doch es kommt schlimmer... viel schlimmer.
Die am ermordeten Jungen gesicherte DNA stimmt mit Maitlands überein und auch die Fingerabdrücke vom Tatort sind mit seinen identisch. Die Schlinge um seinen Hals scheint sich – zur Freude der Ermittler – schnell zuzuziehen. Dennoch beteuert der Beschuldigte seine Unschuld. Mehr noch... er kann ein Alibi für die Tatzeit vorweisen. Laut seiner Aussage befand er sich im rund 70 Meilen entfernten Ohio und nahm an einem Kongress teil. Umgehend eingeleitete Untersuchungen ergeben, dass Maitland wirklich dort gewesen zu sein scheint. Es finden sich ebenfalls Fingerabdrücke in Ohio, die mit seinen übereinstimmen... und es existiert sogar Videomaterial, auf dem der Lehrer eindeutig zu sehen ist. Fakten, die alle Beteiligten vor ein schier unlösbares Rätsel stellen... doch der vorverurteilende Lynch-Mob von Flint City sitzt dem hilflosen Terry Maitland schon bedrohlich im Nacken.
Neues Terrain und alte Pfade
Mehr als das erste Drittel nimmt sich „Der Outsider“ Zeit, um den Leser mit den mysteriösen Geschehnissen - rund um den Mordfall des Jungen - zu beschäftigen und die Beweise für und wider der Schuld des mutmaßlichen Täters gegeneinander abzuwägen. King erzählt einen klassischen Krimi und wird nicht müde, uns eine Zeugenaussage nach der anderen aufzutischen, gefolgt von NOCH einer belastenden Aussage und NOCH einer... Gleich mehrfach werden die grausigen Handlungen, die zum Tode des Elfjährigen geführt haben, in aller Deutlichkeit ausgewalzt. Dies wäre nicht nötig, denn die Grausamkeiten brennen sich auch schon bei den ersten Schilderungen in den Kopf des Lesers. Die Handlung erinnert bis zu diesem Zeitpunkt sehr an das dänische Film-Drama „Die Jagd“ (2012) von Thomas Vinterberg, in dem ein brillant agierender Mads Mikkelsen sich nach Missbrauchsvorwürfen an einer Schutzbefohlenen mit dem wütenden Mob seiner Heimatstadt konfrontiert sieht. Ähnlich wie beim Fall von Terry Maitland wenden sich dort einstige Freunde ab und schreien ohne ordentliche Verhandlung nach Verurteilung... und halten unserer Gesellschaft ungeschönt den Spiegel vor.
Dass sich die Doppelgänger-Theorie, die Maitland an zwei weit voneinander entfernten Orten zur selben Zeit erscheinen lässt, nicht ohne übersinnliche Elemente darstellen lassen kann, sollte die Wenigsten überraschen... schließlich reden wir hier über einen Roman von Stephen King und nur die wenigsten seiner Werke kommen ohne einen Horror-/Mystery-Aspekt aus, auch wenn er bereits mehrfach auf Thriller- und Krimi-Pfaden wandelte. Mit dem späteren Auftauchen eines ermittelnden Charakters wird die Geschichte dann auch in gewohnte King-Bahnen gelenkt und legt den Fokus auf das Mythische und Übernatürliche. Um wen es sich dabei handelt möchte ich nicht verraten, da ich langjährigen King-Lesern nicht den Überraschungsmoment vorwegnehmen möchte. Eine gewisse Bedrohlichkeit baut sich dann zwar in der zweiten Buchhälfte atmosphärisch auf - auch wenn die großen Überraschungen ausbleiben - ,das Finale allerdings erinnert stark an andere Werke des Autors und lässt die Originalität der Ausgangssituation etwas verblassen. Fast so, als wenn King mit seiner eigentlichen Grundidee etwas überfordert wäre und er sich nur mühsam zum rettenden Anker seiner Phantastik schleppen könnte.
In Plauderlaune
Wie gewohnt bekommen die handelnden Charaktere von Stephen King eine komplette Biographie verpasst und es wird sich viel Zeit genommen, um diese ausgiebig zu beleuchten. Durch Schilderungen und Beschreibungen von Eigenheiten, Charakterzügen und besonderen Merkmalen werden dem Leser die Protagonisten fast schon bildlich nähergebracht und man assoziiert die kleinen Schrullen sofort mit ihnen, sobald diese namentlich erwähnt werden. So gerät eine widerspenstige Haarsträhne, die Staatsanwalt Bill Samuels an Alfalfa aus „Die kleinen Strolche“ erinnern lässt, zum humorvollen Running-Gag. Die bereits erwähnten Wiederholungen der Taten und die anfänglich ausufernden Zeugenaussagen bremsen den Lesefluss etwas aus und hier und da lässt King sich ebenfalls dazu verleiten, etwas abzudriften. Neigt sogar dazu, sich in Plaudereien zu verlieren. So werden zwar reichlich Details geliefert, ob diese aber auch der Spannung und der Geschichte förderlich sind, sei mal dahingestellt.
Fazit:
Meine abschließende Meinung zu „Der Outsider“ fällt etwas zwiespältig aus. Einerseits serviert der „Meister“ hier einen spannenden Plot, hinter dessen Fassade man als Leser unbedingt blicken möchte, da man einfach keine Ahnung hat, wie die Lösung ausfallen könnte. Wie kann eine Person an zwei Orten zur gleichen Zeit sein? Unumstößliche Beweise gegen ein wasserdichtes Alibi... ein Fall für den Aktenordner mit der Aufschrift „Alternative Fakten“, mag man meinen. Der Mann, der diesen Begriff geprägt hat – ein gewisser Präsident, auf dessen Haupt Garfield elendig verendet zu sein scheint – bekommt ebenfalls Erwähnung in Kings aktuellstem Werk, da der Autor auch in der Öffentlichkeit keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen den Twitter-Schreihals macht.
Auf der anderen Seite scheint es, als hätte Stephen King bis zur Mitte des Buches selbst noch keine Lösung für dieses Rätsel und würde den sicheren Weg gehen. Diesen beherrscht er zwar routiniert, kann aber die hohen Erwartungen nur bedingt erfüllen.
Die unsichtbare Kuppel über Flint City wird mit fortschreitender Lesedauer entfernt und die Kleinstadt wird hinter sich gelassen. Ab diesem Zeitpunkt wechselt der Ton und es erscheint, als würde man ein anderes Buch – mit teilweise neuen und neu definierten Charakteren - lesen. Insgesamt kein schlechter Roman, aber auch kein neues Meisterwerk.
Stephen King, Heyne
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