Starship - Verloren im Weltraum
- Mantikore
- Erschienen: Januar 2018
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Endloser Weg zum sinnlosen Ziel
Niemand an Bord des gewaltigen Generationsraumschiffs erinnert sich, wann oder wieso man die Erde verlassen hat oder wohin die Reise führt. Etwas ging schief, und seitdem treibt das Schiff durchs Weltall. Die Besatzung ist in untereinander verfeindete Gruppen zerfallen, von denen einige rudimentär etwas von der Technik verstehen, während andere auf ein Steinzeit-Niveau zurückgefallen sind und in den endlosen Korridoren ein kümmerliches Dasein fristen.
Zum Greene-Stamm gehört der Jäger Roy Complain, der genug hat von den strengen Gesetzen, die das ohnehin mühsame Leben weiter erschweren. Auf der Suche nach einem Sinn dieser Existenz gerät er an den rebellischen Priester Henry Marapper, der sich aus jenen Artefakten, die der Stamm immer wieder findet, zumindest ein grobes Bild vom tatsächlichen Zustand dieser ‚Welt‘ zusammengereimt hat. Marapper will in die Kommandozentrale vorstoßen, den legendären „Kapitän“ ab- und sich an seine Stelle setzen, um den Kurs des Schiffes zu bestimmen. Mit Complain und drei anderen Männern macht sich Marapper auf den Weg.
Die Expedition ist gefährlich, denn längst haben sich die raumschiffeigenen Pflanzen und Tiere selbstständig gemacht. Die Korridore gleichen Dschungeln, in denen nicht nur gefährliche Räuber, sondern auch aggressive Nachbarstämme, Mutanten und die sagenhaften „Riesen“ umgehen. Auf die Technik kann man sich nicht mehr verlassen; es gibt Ausfälle und Fehlfunktionen, die den langen Weg zur Zentrale zusätzlich erschweren. Immer wieder muss man Umwege einschlagen und Hindernisse überwinden. Schon bald verzeichnet die kleine Gruppe erste Ausfälle. Zu bekannten Schrecken gesellen sich neue, tödliche Gefahren, während das ersehnte Ziel kaum näher rückt...
Klägliches Ende eines großen Plans
Der bemannte Raumflug zu Planeten außerhalb unseres Sonnensystems wird dereinst zu einer Fahrt ohne Wiederkehr werden. Da man die physikalische Grenze der Lichtgeschwindigkeit nur in der Science Fiction übertreffen kann, sorgen die schwer vorstellbaren Entfernungen für Reisezeiten, die sich günstigstenfalls in Jahrzehnten messen lassen. Auch die Technik, Körper und Geist quasi tiefgefroren und deshalb alterungsfrei zum Ziel zu bringen, bleibt der SF vorbehalten. Es gibt nur eine (halbwegs) realistische Alternative: Eine Besatzung startet an Bord eines Raumschiffs, das einem künstlichen Kleinplaneten gleicht. Dort vermehrt sie sich und schult ihre Nachkommen, die schließlich das Kommando übernehmen, während die Vorgängergeneration ausstirbt. Dieser Zyklus kann theoretisch fortgesetzt werden, bis nach langer Zeit das Ziel erreicht ist.
Nicht nur SF-Autoren erkannten schnell den elementaren Schwachpunkt dieses Konzepts: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Übergang von einer Generation auf die nächste reibungslos funktioniert? Sind die Nachkommen fähig oder überhaupt willens, einer Mission zu dienen, der sie nie zugestimmt haben und mit der sie sich womöglich nicht identifizieren können? Hinzu kommt der Zufall in Gestalt unvorhersehbarer und unvermeidbarer Zwischenfälle. Auch oder gerade fortschrittliche Technik kann versagen - und wer weiß sicher, worauf man im All buchstäblich treffen wird?
Brian W. Aldiss spielt mit „Starship“ exemplarisch durch, was schief gehen und welche Folgen dies haben könnte. Er beschränkt sich dabei keineswegs auf den technischen Aspekt; eine Limitierung, die der „klassischen“ Science Fiction gern angekreidet wird. Obwohl bereits 1958 und damit lange vor der „inner fiction“ entstanden, legt Aldiss den Fokus auf den Menschen. (Um jene Leser zu beruhigen, die der „space opera“ den Vorzug geben, sei angemerkt, dass der Autor dennoch nicht mit einschlägigen SF-Elementen spart.) Er ist auch zukünftig sein ärgster Feind, was sich steigert, wenn er mit seinesgleichen in einem Raumschiff quasi gefangen ist; es verwandelt sich in einen Dampfkochkopf mit fehlendem Druckventil, was für ein explosives Finale sorgt.
Reise ohne Ziel und Sinn
Noch kann sich Aldiss nicht von sämtlichen Klischees freimachen. So wirkt eine generell wenig überzeugende „love story“ der Handlung eher aufgezwungen. Zudem gibt es diverse Logiklöcher, über die man besser nicht allzu intensiv nachdenken sollte. Das Finale kann nur bedingt überzeugen; es kommt allzu abrupt und wirkt wie ein vom Verleger gefordertes Happy-end, nachdem Aldiss zuvor sehr überzeugend ein durchweg finsteres Bild gezeichnet hat. Vieles wird zudem angerissen, ohne tatsächlich relevant zu sein; so bleiben die intelligent gewordenen, telepathischen Ratten letztlich ein reines Spannungselement.
Nichtsdestotrotz gelingt es dem Verfasser, dem Geschehen mehrfach gänzlich unerwartete Wendungen zu geben. Die Vergangenheit des ‚vergessenen‘ Generationsraumschiffs enthüllt sich in mehreren Phasen, und die daraus resultierenden ‚Fakten‘ erweisen sich als Steinchen eines Mosaiks, dessen Gesamtbild das Desaster einer gescheiterten Expedition ergibt. Dabei offenbart sich ein Drama, das kein gutes Bild einer Zukunft bietet, denn der Mensch hat offenkundig nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.
Bis er das Rätsel des verlorenen Raumschiffs lüftet, entwirft Autor Aldiss mit großem Geschick eine ‚Anti-Zivilisation‘, die den Menschen gleichzeitig als Meister und Opfer einer selbst verschuldeten Evolution zeigt. Hinzu kommt der Entwurf einer ebenfalls von ungewöhnlichen Umständen geprägten Sozialordnung. Aldiss interessierte sich sehr für die Sprache als Instrument, das dem Menschen gleichermaßen zur Verständigung und zur Manipulation dienen kann. Für die „Dussel“, die zu einer Jäger-und-Sammler-Gesellschaft herabgesunken sind, erfindet er eine Sprache, die diesen Niedergang konserviert, indem sie Begriffe und Formulierungen der Vergangenheit aufgreift, deren eigentlicher Sinn in Vergessenheit geraten ist. Entsprechend ‚inspiriert‘ wurde auch die ‚Religion‘: Was Henry Malrapper lehrt, basiert verzerrt auf unvollständig überlieferten, nie verstandenen Leitsätzen der Psychologie; Aldiss karikiert hier (beinahe im „Monty-Python“-Stil), wie „Glaube“ entsteht und sich verselbstständigt. In solchen Passagen wirkt „Starship“, obwohl vor mehr als einem halben Jahrhundert geschrieben, erstaunlich frisch.
Anmerkung: Die lange Reise zur Vollständigkeit
Die deutsche Veröffentlichungsgeschichte dieses Romans bildet - nomen est omen - exemplarisch den langen Weg ab, den die Science Fiction hierzulande gehen musste, bevor sie ihren Lesern endlich ungerupft präsentiert wurde. Viele Jahrzehnte galt die SF als Unterhaltungsliteratur minderwertiger Art. Die Verlage betrachteten sie als Ware, die möglichst kostengünstig an den Käufer gebracht wurde.
Die Intention des Verfassers war in diesem Zusammenhang belanglos. (Nicht nur) SF-Romane waren Gefangene der Seitennormierung: Taschenbücher wiesen 128, 144, 160 oder 192 Seiten auf, wobei die niedrigen Zahlen favorisiert wurden, da man auf diese Weise die Druckkosten geringhalten konnte. Noch schlimmer erging es denjenigen Werken, die - wie auch dieser Roman - auf 64 Groschenheftseiten zusammengekürzt wurden. Als Taschenbuch erging es „Starship“ nur marginal besser; 1973 zählte es 143 Seiten. Über Bord gingen erwartungsgemäß Passagen, die mehr als reine ‚Action‘ boten. Relevanz scheuten SF-Fans aus Verlagssicht wie der Teufel das Weihwasser, weshalb man sie vorsorglich vor Aussagen wie dieser bewahrte: „Am Anfang des technologischen Zeitalters - für mich ein passendes Anzeichen - steht die Erinnerung an Auschwitz-Birkenau.“ (S. 248)
Erst in den 1980er Jahren kam das Ende der Normierung. Unter den Werken, die ungekürzt und damit eigentlich erst jetzt zum ersten Mal veröffentlicht wurden, war auch „Starship“. Da die Ausgabe von 1984 schon lange vergriffen ist, freut es den SF-Leser, dass nun eine ebenfalls ungekürzte, neu übersetzte Fassung angeboten wird, deren einziger Nachteil das aussageschwache Klatschbild-Cover ist.
Brian W. Aldiss, Mantikore
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