Der Gelehrte lernt etwas dazu
Er ist die Touristenattraktion schlechthin. Im Unterricht wird der Bau ebenso besprochen wie er in Doktorarbeiten zur Erreichung akademischer Würden genutzt wird. Die Rede ist vom Turm von Babel. Einem Bauwerk, das so gewaltig ist, eine derartige Anzahl von Reichen, im Sinne von Hoheitsgebieten, beheimatet, dass niemand wirklich weiß, wie viele Stockwerke er umfasst. Eines aber ist gewiss - einmal im Leben sollte man, so man etwas auf seinen Intellekt hält, den Bau besichtigt, die Reiche bereist und unvergessliche Eindrücke gesammelt haben.
Thomas Selin ist ein etwas verknöcherter Lehrer in einem abseits gelegenen Dorf. Hier ist er eine unumstrittene Respektsperson, werden ihm doch die Zöglinge zur Ausbildung und Erziehung anvertraut.
Als der etwas verschrobene Sonderling überraschend heiratet, ist die Dorfgemeinschaft perplex. Die Hochzeitsreise geht, wie kann es auch anders sein, per Dampflokomotive - schließlich lässt das Salär eines Lehrers die Extravaganz einer Luftschifffahrt nicht zu - zum Turm. Hier will das Paar sich in den legendären Bädern erholen, neue Eindrücke sammeln und sich Zeit füreinander nehmen.
Doch es soll ganz anders kommen.
Noch bevor sie den Turm betreten, werden die Beiden in den unübersichtlichen, ja chaotischen Zuständen außerhalb des Turms getrennt.
Selin muss die Erfahrung machen, dass Vieles, wenn nicht alles, was er über den Turm zu wissen glaubte, die gefestigte Gelehrtenmeinung, sich von den tatsächlichen Zuständen des Turms doch markant unterscheidet. Er begegnet Dieben und Betrügern, wird ausgeraubt, zum unfreiwilligen Mitspieler eines Schauspielers, der zum Mörder wird, und arbeitet sich nach und nach immer weiter den Turm hinauf. Hier trifft er auf Dekadenz, auf moralische Abgründe aber auch auf interessante, weil charismatisch und intelligente Mitreisende.
So wird seine Suche nach der verlorenen Ehefrau auch eine Reise der Erkenntnisse und der persönlichen Entwicklung, die ihm Abgründe ebenso offenbart, wie Begegnungen und Erlebnisse ermöglicht, die ihn reifen lassen - denn merke, auch ein biederer Lehrer aus der Provinz kann lernen...
Ein sich entwickelnder, tollpatschiger Held und eine faszinierend andere Kulisse
Tja, was ist das nun für ein Roman, über den die Kritik aus dem anglo-amerikanischen Sprachraum die Lorbeeren nur so ausschüttet?
Ein Roman mit einer phantastischen Bühne, einem realen Turmbau zu Babel, in dem der Erzähler und dem Leser eine Vielzahl unterschiedlichster Bühnen präsentiert wird.
Ein Buch aber auch, das uns einen sympathischen Protagonisten vorstellt, der zunächst blauäugig und fast ein wenig überheblich ins ungewollte und ungesuchte Abenteuer zieht, dann aber an seinen Fährnissen und Erfahrungen wächst und reift.
Ein Buch, das seltsam abwechslungsreich ist, das Spannung aufbaut und vermittelt, dann aber wieder mit ruhigen fast schon philosophischen Kapiteln das Tempo rausnimmt und Atem holt für den nächsten Anstieg.
Das hat der Leser so sicherlich noch nie gelesen, und verzückt durch ungewöhnliche Einblicke in menschliche Verhaltensweisen und Merkwürdigkeiten.
Dennoch konnte mich der Roman nicht gänzlich fesseln. Zu unterschiedlich präsentierte sich das Tempo im Plot, zu abrupt waren die Wechsel, die der Autor seinen Lesern zumutet.
Fazit:
So bleibt mir ein zwiespältiger Eindruck. Eine wahrlich beeindruckende Kulisse, die der Autor mit ganz unterschiedlichen Aufzügen füllt, markante Figuren und ein lernender Held, dann aber immer wieder unnötige Längen, die den Lesefluss stören.
Josiah Bancroft, Heyne
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