Die Überfahrt
- Fischer
- Erschienen: Januar 2017
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Koma-Säufer und Vampire: Die Untoten kommen!
Schon vor ihrer letzten Fahrt ist die „Baltic Charisma“ ein Höllenschiff. Die in die Jahre gekommene Fähre einer pleitegefährdeten Gesellschaft fährt zwischen Schweden und Finnland hin und her. Der Weg ist wichtiger als das Ziel, denn auf hoher See kreuzt das Schiff in zollfreien Gewässern. Da Alkohol in Skandinavien aufgrund einer beachtlichen Besteuerung sehr kostspielig ist, nutzen sauflustige Passagiere diese Fahrten gezielt, um sich volllaufen zu lassen.
Auf dem schlecht gewarteten Schiff geht es während dieser ‚Fährfahrten‘ hoch her. Alkohol, Drogen, Sex und dadurch bedingte Gewalt sorgen für ständige Zwischenfälle. Für Adam und seine Mutter ist dies die perfekte Tarnung. Die beiden Vampire müssen wieder einmal ihren Aufenthaltsort wechseln, um ihre Unsterblichkeit zu tarnen. Adam, der schon als Kind in einen Blutsauger verwandelt wurde, ist es satt, ständig auf der Flucht zu sein. Er will die Tarnung aufgeben und sich eine Gruppe ihm ergebener Vampir-Untertanen erschaffen, um endlich seine Träume von Macht und Unterwerfung zu verwirklichen.
Deshalb attackiert Adam gezielt Passagiere und Crewmitglieder der „Baltic Charisma“, die ihm auf dem Meer ausgeliefert sind. Als sich die grotesken Mordtaten zu mehren beginnen - jeder Vampirbiss erzeugt neue Blutsauger -, brechen Chaos und Panik aus. Die zusammenschmelzende Schar der noch nicht Infizierten versucht sich gegen die Untoten zu wehren.
Was die entsetzten Überlebenden nicht ahnen und Adam und seine frischgebackenen Vampire ignorieren, ist ein Schrecken, den nur Adams Mutter schon kennenlernen musste: Der Rat der untoten „Alten“ sorgt notfalls mit brachialer Gewalt dafür, dass Vampir-Massaker an Menschen unterbleiben. Was an Bord der „Baltic Charisma“ vorgeht, sollte den „Alten“ tunlichst verborgen bleiben ...
Höllische Realität als ideale Dämonen-Tarnung
Zu Beginn ein Stoßseufzer der Erleichterung: Die Welle der windelweichen Pubertär-Vampirchen ist entweder abgeebbt oder in eine Marktnische abgedrängt worden. Stattdessen melden sich wieder richtige Blutsauger zu Wort, die alles andere als selbstlose, unsterbliche Liebe im Hinterkopf haben!
Mats Strandberg präsentiert uns denkbar hässliche, bissfreudige und menschenfeindliche Vampire, die völlig zu Recht das Tageslicht auch deshalb meiden, weil sie als solche sonst allzu deutlich zu erkennen wären. Diese Kreaturen sind zudem nicht gerade intelligent, sondern werden von ihren Instinkten bestimmt, die sie nur bedingt zurückhalten können. Springt ihnen die Sicherung heraus, laufen sie buchstäblich Amok, bis sie gebissen und ausgesaugt haben, wer ihnen vor die Kiefer geraten ist.
Da dies auf einem Fährschiff geschieht, ist der Blutzoll hoch: Hier ist Flucht unmöglich, denn Wasser hat keine Balken. Zudem können sich unsere Vampire 1 und 1.5 (Mutter und Sohn) auf eine Tarnkappe verlassen, die von Horrorautoren der Vergangenheit so noch nicht entdeckt wurde: An Bord der „Baltic Charisma“ ist faktisch jedermann und jede Frau betrunken, drogenbetäubt oder anderweitig aus dem Lot. An Hinterrücks-Attacken durch Blutsauger denkt der feierwütige Mob definitiv nicht, was die ‚Eroberung‘ der „Baltic Charisma“ erleichtert.
Motiv, Ort und Gelegenheit
Faktisch beginnt „Die Überfahrt“ als Psycho-Drama. Diesem Aspekt widmet sich Autor Strandberg zu Beginn definitiv zu intensiv. Viel zu viele gestörte und labile Figuren werden in eine Handlung eingeführt, die ausgiebig auf der Stelle tritt. Strandberg gibt sich Mühe, das Elend aus Einsamkeit, Vernachlässigung, Perspektivenlosigkeit, Sucht etc. in Worte zu fassen. So etwas mag Literaturkritiker erfreuen, verärgert jedoch die eigentlich nicht im Stich gelassenen Horror-Freunde. Tatsächlich werden beide Gruppen vor die Köpfe gestoßen, da es Strandberg nicht gelingt, seine Ansätze harmonisch miteinander zu verknüpfen.
Stattdessen schwingt die Handlung abrupt um, als sich das Grauen unter Deck zu erkennen gibt. Immerhin kommt endlich Tempo auf. Trotzdem spielt sich auf der „Baltic Charisma“ ab, was wir aus (zu) vielen Gruselromanen und -filmen kennen: Vampire ‚vermehren‘ sich auch bei Strandberg durch Biss und Blutabnahme. Eine gewisse Originalität können seine ‚Jung-Vampire‘ beanspruchen, die einen von drastischen Nebenwirkungen - die der Autor detailfroh beschreibt - begleiteten ‚Tod‘ sterben, aus dem sie als reißende Bestien erwachen, bis in ihren Schädeln - manchmal - das Hirn wieder anspringt, was sie als Gegner natürlich erst recht gefährlich macht.
Auf allen Decks über und unter der Wasserlinie wird gemetzelt, was die Reißzähne hergeben. Das Heer frischgebackener Vampire könnte indes nicht nur bei den wenigen Überlebenden, die sich irgendwo verbarrikadieren können und verzweifelt nach einer Fluchtmöglichkeit fahnden, für Unmut sorgen: Vampire - so informiert uns Strandberg über Adams Vampirmutter - teilen sich schon seit Äonen diese Welt mit den Menschen. Ein ‚Rat‘ aus richtig alten Blutsaugern wacht darüber, dass die Vampire sich unauffällig verhalten, weshalb es ihnen bisher gelungen ist, ihre Existenz geheim zu halten. Das ist ratsam, um nicht das Misstrauen der Menschen zu wecken, die in der Überzahl sind und zu einer globalen Jagd auf die Blutsauger blasen könnten.
Auch Schattengesellschaften haben Regeln
Dieser Rat der „Alten“ stellt eine der (leider vielen) Schwachstellen dieses Romans dar. Als düsteres Menetekel schwebt er über der „Baltic Charisma“, ohne jemals Bedeutung zu erlangen. Stattdessen weicht Autor Strandberg auf die übelste Alternativ-‚Lösung‘ aus: Einerseits lässt er das Schiff sinken, während er andererseits In den letzten Handlungspassagen klarstellt, dass nicht sämtliche „Neugeborenen“ ins Gras bzw. in den Seetang beißen, obwohl sie in den Fluten der Ostsee versinken. Klartext: Sollte „Die Überfahrt“ genug zahlende Leser finden, ist eine Fortsetzung jederzeit möglich.
Letztlich erweist sich der Blutrausch an Bord der „Baltic Charisma“ als Sturm im Wasserglas. Strandberg schafft es nie, der Eindimensionalität zu entkommen. Er bemüht sich, indem er u. a. das tragische Schicksal von Vampir Adam und seiner Mutter enthüllt. Allerdings ist diese Geschichte nicht gerade originell. Über die speziellen Problemen ‚erwachsener‘ Vampire, die in kindlichen Körpern gefangen sind, wurden wir schon 1976 in „Interview with the Vampire“ (dt. „Interview mit einem Vampir“, verfilmt unter diesem Titel 1994) von Anne Rice informiert. Neues ist Strandberg nicht eingefallen. Überhaupt kommt es nie zu einer echten Auseinandersetzung zwischen Mutter und Sohn.
Das Umgehen potenzieller Konflikte, die zum Teil aufwändig inszeniert wurden ist eine generelle Schwäche dieses Romans, der eher eine Sammlung zahlreicher Episoden darstellt, die sich nur mühsam zu einem zentralen Geschehen zusammenfinden. Viele, viele Seiten füllt Strandberg mit den blutigen Lebensenden (bzw. dem vampirischen Neuerwachen) jener Figuren, die er uns zuvor so ausführlich vorgestellt hat. Tatsächlich führt dies zu allzu offensichtlichen Wiederholungen, bleiben solche Vorgeschichten belanglos. In der Krise geht es um Leben oder Tod, ohne dass sich beim Leser Tragik und Schrecken einstellen, weil die Mehrzahl der Figuren nie wirklich unser Interesse und Mitgefühl finden konnten.
Das Boot (und des Lesers Nase) ist voll
Eine Fähre besitzt wenig Tiefgang, sondern geht in die Breite, um mehr Fracht aufnehmen zu können - ein Merkmal, das in die Handlung einging und diese zu ihrem Nachteil prägt. Die „Baltic Charisma“ erweist sich als nur bedingt genutzter Schauplatz. Strandberg schildert uns ein modernes Narrenschiff der Verdammten, was ihm durchaus gelingt, ohne dass es abermals für den Fortschritt der Handlung von Bedeutung ist. Als der Vampirismus ausbricht, könnte dies an jedem beliebigen, einigermaßen von der Außenwelt abgeschotteten Ort geschehen.
Der Kampf auf Leben und Tod konzentriert sich auf diverse Hauptfiguren, während gleichzeitig namenloses Fußvolk verheizt wird, um für dekorative Leichenberge zu sorgen. Das ist phasenweise gelungen, verliert aber an Wirkung, wenn der Leser merkt, dass Strandberg Episode an Episode hängt. Er könnte seinen Roman problemlos um ein Drittel der Seitenstärke erleichtern, ohne den Ereignisfluss dadurch zu beeinträchtigen.
Viele Worte, wenig Schrecken: So lautet die Zusammenfassung. Mats Strandberg hat sich zunächst ungelenk und allzu basisbreit in seinen Stoff versenkt, um später routinierter, aber unter weitgehender Aufgabe der zunächst präsentierten zwischenmenschlichen Probleme Häcksel-Horror zu produzieren. Was vorher so komplex und kompliziert war, wird nun oft buchstäblich mit einem Kehlenbiss ‚geregelt‘. Die Auflösung ist erst recht ideenschwach, was insgesamt für einen Grusel sorgt, der in der ostseeflachen Qualität dieses Garns wurzelt und deshalb keine Lektüreempfehlung darstellt.
Anmerkung: Interessanterweise hat Strandberg seinen Roman bereits 2015 geschrieben. Er wurde zunächst in seiner deutschen Übersetzung veröffentlicht, bevor 2018 doch ein schwedischer Verlag zugriff.
Mats Strandberg, Fischer
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