Im finsteren Eis
- Heyne
- Erschienen: Januar 2017
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Polarer Riss zwischen möglichen Welten
Seemann Noah Cabot ist gleich mehrfach ein Verdammter. Die Ehefrau starb nach langer Krankheit, das Geld ist knapp, und ein missgünstiges Schicksal ließ ihn ausgerechnet auf einem Schiff landen, das von seinem Schwiegervater kommandiert wird, der ihn für den Tod der Tochter verantwortlich macht und ihm nach dem Leben trachtet.
William Brewster ist Kapitän der „Arctic Promise“. Das Versorgungsschiff liefert Nachschub für die Bohrinsel „Niflheim“, die in der Tschuktschensee im Nordpolarmeer zwischen Sibirien und Alaska Erdöl fördert. Die Fahrt ist lang und anstrengend - vor allem für Cabot, der von Brewster geschurigelt wird.
Als die „Arctic Promise“ in einen dichten Nebel gerät, fällt die Kommunikation mit dem Festland aus. Brewster treibt sein Schiff unbeirrt voran, bis es sich in einer plötzlich auftauchenden Eisschicht festfährt. Der Versuch, sich mit Maschinengewalt freizukämpfen, endet mit einem Totalschaden des Antriebs: Die „Arctic Promise“ sitzt fest.
Am Horizont ist vage ein künstliches Objekt sichtbar. Handelt es sich um die „Niflheim“, die allein Hilfe und Rettung verspricht? Die Frage ist lebenswichtig, denn eine mysteriöse Krankheit hat die Besatzung befallen. Nur Cabot ist immun, was das Misstrauen seiner Kameraden weckt, die zu allem Überfluss von unheimlichen Gestalten gepeinigt werden, die aus den Schiffsschatten treten.
Eine kleine Expedition macht sich auf, das geheimnisvolle Objekt zu untersuchen. Die Gruppe erreicht es, aber der Fund bringt keine Rettung, sondern wirft neue Fragen auf, deren mögliche Antworten wenig Gutes für das Schicksal der Seeleute verheißen …
Hohe See = großer Schrecken
Eine Gruselgeschichte auf hoher See, die außerdem im polaren Eis endet: Das verspricht viel, zumal gleich mehrere Standards bedient werden, die dem Horror-Genre zu düsterem Glanz verhelfen. So ist der Schrecken besonders schrecklich dort, wo man ihm ohne Möglichkeit zur Flucht ausgeliefert ist. Ein Schiff bietet hier eine ideale Bühne. So groß man es auch gebaut haben mag, es ist nur ein Punkt auf einem Planeten, der zu zwei Dritteln von Meeren bedeckt wird. Ungeachtet einer satellitengestützten Kommunikationstechnik ist man vor unangenehmen Überraschungen auch im 21. Jahrhundert keineswegs sicher. Monsterwellen, Super-Stürme und andere Phänomene lassen weiterhin Schiffe in eindrucksvoller Zahl spurlos verschwinden.
Zur Isolation kommt die Tatsache, dass man sich in einer menschenfeindlichen Umgebung bewegt. Allein das Schiff bietet Sicherheit, denn Wasser hat bekanntlich keine Balken. Auch modernste Rettungstechnik stellt keine Überlebensgarantie dar, weshalb das notfallbedingte Verlassen des Mutterschiffes bestenfalls eine erschreckende Vorstellung bleibt.
Insofern schlägt Autor Bracken MacLeod einen sicheren Kurs ein, wenn er die „Arctic Promise“ erst in dichten Nebel und dann in eine mysteriöse Eislandschaft führt, wo die Besatzung auf sich selbst gestellt ist. Hinzu kommen interne Unstimmigkeiten, denn Grusel kann sich dort am intensivsten entfalten, wo seine Opfer nicht zusammenhalten, sodass sie einzeln ins Visier genommen werden können.
Unheimlicher Aufwand oder eher Vorwand?
MacLeod dreht über zwei Drittel seines Garns geschickt an einem gut geschmierten Rad: Die „Arctic Promise“ gleicht dem Raumfrachter „Nostromo“, der auf dem Planeten der Aliens landet und von dessen Bewohnern infiltriert wird. Die Parallelen sind deutlich - warum auch nicht, da diese Konstellation kein Klischee ist bzw. sein muss, sondern einen allgemeingültigen Plot darstellt, der immer wieder verwendet werden kann. Es kommt dann auf die Variation an.
Es beginnt mysteriös und spannend. Die „Arctic Promise“ ist kein romantisch knarrender Segelkutter, sondern ein modernes Versorgungsschiff, das von einem gesichtslosen Konzern damit beauftragt wird, Nachschub zu einer umweltverschmutzenden aber rohstoffliefernden Ölplattform zu bringen. An Bord findet man keine verschworene Männergemeinschaft, sondern zusammengewürfelte Lohnknechte, die vor allem die Tage zählen, die sie auf hoher See schuften müssen. Sie hassen ihren Job oder nehmen ihn hin, weshalb es höchstens Cliquen aber keine Freunde gibt.
Dies ist wichtig für die Geschichte, denn es impliziert einen Egoismus, der buchstäblich über Leichen geht. Letztlich geht es MacLeod um den Konflikt, der die Besatzung in ein Pulverfass verwandelt, das in der Krise explodiert. Leider täuscht er uns, seine Leser, indem er viel Energie und viele Seiten darauf verwendet, eine Spukgeschichte zu inszenieren, die sich vor allem als Vorwand entpuppt, wenn es im letzten Drittel dieses Romans handgreiflich und gar nicht übernatürlich zur Sache geht.
Der Mensch ist der eigentliche Schrecken
Es ist schwierig, über diesen Roman zu schreiben, ohne MacLeods ‚Auflösung‘ des Rätsels zu schildern, das über dem Gesamtgeschehen schwebt; dies würde potenzielle Leser verärgern oder abschrecken. So muss an dieser Stelle der diffuse Hinweis genügen, dass dem Autor keineswegs etwas Neues eingefallen ist. Seine ‚Erklärung‘ ist ohnehin nur vordergründig und ohne Belang für den finalen Konflikt, der gänzlich unbeeinflusst von der ‚übernatürlichen‘ Umgebung abläuft, die der Verfasser wohl dem seligen Charles Berlitz mit seiner dümmlichen aber lukrativen Mär vom „Bermuda-Dreieck“ abgelauscht und mit SF-Elementen verschnitten hat.
Vieles, das der Leser gern erfahren hätte, verschwindet deshalb spurlos aus der Handlung oder wird wenig zufriedenstellend irgendwie abgehakt. Gespenstische Schatten springen aus den Wänden und greifen nach verängstigen Seeleuten? Geschenkt; sie sind reine Grusel-Deko, die MacLeod ebenso pflichtschuldig wie lustlos bzw. ungeschickt seiner Story aufpappt.
Selbstverständlich bleibt die gesamte Anomalie, in die es die „Arctic Promise“ verschlägt, ohne Erläuterung. Das ist sogar die bessere Entscheidung, weil MacLeod wie gesagt dem Rätsel wenig Beachtung schenkt. Im Nachwort bedankt er sich bei einem Testleser, weil er ihn „darauf gebracht habe, worum es ‚Im finsteren Eis‘ eigentlich geht“. Diese Erkenntnis sollte nicht überraschen, da MacLeod in seinem Werk ohnehin um Menschen in Krisen kreist, wobei diese nicht jenseitig verursacht werden. MacLeod geht - an sich sehr richtig - davon aus, dass der Mensch sich selbst die Hölle auf Erden bereiten kann. Geister und ähnliche Erscheinungen benötigt er nicht.
„Gemeinschaft“ als fatale Fehlinterpretation
Verdacht könnte der Leser schon früh schöpfen. MacLeod investiert viel Zeit, um seiner Hauptfigur Noah Cabot eine Vorgeschichte zu schaffen, die zumindest im fantastischen Rahmen der Handlung keine Rolle spielt. Die geliebte Ehefrau ist krankheitsbedingt gestorben, der Schwiegervater ernennt den untröstlichen Gatten zum Sündenbock. Das Schicksal = Autor MacLeod sorgt dafür, dass es Cabot genau auf jenes Schiff verschlägt, dessen Kapitän besagter Schwiegervater ist, der nicht nur hasst, sondern dem Wahnsinn verfällt.
Auch sonst drehen sich die handlungsrelevanten Konflikte um zwischenmenschliche Probleme. Kapitän Brewster hat Gefolgsleute, die ihm gern die mörderische Dreckarbeit abnehmen, während Cabot sich nur auf wenige Freunde verlassen kann. Als die „Arctic Promise“ in Eis und Nebel strandet, spitzt sich die Situation zu, weil Brewster mit seinem Verstand auch seine Zurückhaltung verliert und die Attacken auf Cabot intensiver werden.
Parallel dazu werden die Rätsel der Einöde, in der man gestrandet ist, eher nebensächlich zur Sprache gebracht und im letzten Drittel praktisch ausgeklammert. Die Handlung verwandelt sich plötzlich in einen Überlebenskampf Mann gegen Mann und „Im finstereren Eis“ in einen simplen Action-Thriller. Zahlenmäßig unterlegene Gutmenschen schleichen mit bewaffneten Totschlägern in Überzahl durch unbeleuchtete Gänge, die scheinbar gelungene Flucht endet mit dem ‚überraschenden‘ Erscheinen des Zentral-Strolchs: Hier darf der Leser nicht auf Überraschungen hoffen, während sich jegliche Erwartung, die ganz und gar nicht ‚natürliche‘ Umgebung werde das Geschehen beeinflussen, zu Recht verflüchtigt hat.
Insofern bleibt dieses Lese-Erlebnis zwiespältig. MacLeod hat ein Händchen für Stimmungen, doch ihm fehlt das Gespür für eine stringent aufgebaute und erzählte Geschichte. „Im finsteren Eis“ beginnt mysteriös und endet nebulös, was zwar zur Kulisse passt, jedoch nicht verbergen kann, dass dieses Garn aus zwei literarischen Komponenten besteht, die nicht zueinanderpassen wollen.
Bracken MacLeod, Heyne
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