Vom Seuchen-Regen in die Bunker-Traufe
Greg Fuller hatte diese Geschäftsidee: Im Hinterland des US-Staates Maine baute er das "Sanctum", einen Groß-Bunker, der nicht nur den üblichen Überlebensraum bietet, sondern in Luxus-Wohnungen aufgeteilt ist. Die Kunden rekrutieren sich aus dem Feld vermögender Pessimisten, die den Weltuntergang nahen sehen und diesen mit ihren Familien in Sicherheit aussitzen wollen.
Als eines Tages in Asien eine Super-Grippe ausbricht, die bald um die ganze Welt zieht, wird Fuller überrascht. Das "Sanctum" ist längst nicht fertig, doch seine Mieter stehen vor der Bunkertür und fordern Einlass. Sie haben sich auf Fullers großartigen Versprechen verlassen und reagieren daher unwirsch, als sie den tatsächlichen Zustand ihrer Zuflucht registrieren.
Gefährlicher sind innere Spannungen, die umgehend ausbrechen. Im "Sanctum" treffen reiche Rassisten, Psychopathen und religiöse Fanatiker auf reiche Mitbürger asiatischer Herkunft, selbstständige Frauen u. a. Zeitgenossen, die auf ‚alte Werte' wenig geben und deshalb feindlich behandelt werden bzw. entsprechend reagieren. Mühsam erhalten Fuller und sein Assistent Will Boucher einen brüchigen Burgfrieden, der erst recht in Gefahr ist, als das "Sanctum" von der ‚verseuchten' Überwelt abgeschottet wird und man auf sich gestellt ist.
Als Fuller mit eingeschlagenem Schädel gefunden wird, wird die Lage kritisch, dann lebensgefährlich, denn nach einem Brand im Kontrollzentrum lässt sich die Pforte des "Sanctums" nicht mehr öffnen. Das Wasser wird knapp, weitere Morde geschehen. Der Druck steigt kontinuierlich, Allianzen bilden sich und zerfallen wieder. Hässliche Wahrheiten werden enthüllt, während sich das "Sanctum" (= Allerheiligste) unerbittlich in eine kleine aber perfekte Hölle auf Erden bzw. einige Meter unter deren Oberfläche verwandelt, deren Bewohnerzahl rapide schrumpft ...
Warum Monster, wo schon der Mensch ist?
Schon die Inhaltsskizze fasst zusammen, was uns hier (wieder einmal) erzählt wird: In der Krise sowie unter Druck ist ein äußerer Feind nicht annähernd so lebensgefährlich wie die bedrohte Menschengruppe selbst. Wer es klassisch ausgedrückt liebt, kann auf diese Sentenz des antikrömischen Dichters Plautus zurückgreifen: "Homi homini lupus" - "Der Mensch ist des Menschen Wolf". Autor Grey unterstreicht es, indem die ohnehin nur als fluchtauslösender Faktor ins Spiel gebrachte Seuche praktisch aus dem Geschehen streicht bzw. verebben lässt. Der eigentliche Zusammenbruch findet im "Sanctum" statt.
Solche Kessel-unter-Dampf-Geschichten werden seit jeher erzählt und noch lieber verfilmt. Die Kulissen können einfach und übersichtlich (und damit kostengünstig) gehalten werden, die Zahl der Darsteller bleibt begrenzt. Selbst auf die Darstellung der Außenbedrohung kann verzichtet werden; dies erfreut zudem die klassische Film-Kritik, die alles ablehnt, was unterhält, statt eine Botschaft zu transportieren.
Weil längst alles erzählt wurde, das sich erzählen lässt, kommt es auf die Variation des Bekannten an, mit der sich weiterhin Leser und Zuschauer fesseln lassen. In diesem Punkt muss sich das Autorenduo Sarah Lotz und Louis Greenberg, die hier unter dem Pseudonym "S. L. Grey" zusammenfanden, freilich Ideenarmut und Darstellungsträgheit vorwerfen lassen.
Loch im Boden passt zu unterirdischer Story
Stattdessen regiert das Klischee mit einer Penetranz, die selbst den härtesten Trash-Liebhaber auf die Probe stellt. "Under Ground" stellt nach Auskunft von Lotz ein Gedankenspiel dar. Das klingt bedeutungsschwer, wirft aber in Kenntnis des Ergebnisses die Frage auf, wieso S. L. Grey eine Geschichte spann, die weder etwas Neues noch eine simple Überraschung bieten kann. Wir kennen jede Wendung und jede Figur, was unseren Verdruss zusätzlich steigert: Grey ‚orientiert' sich ausschließlich an ohnehin Wiedergekäutem, dem jeder Geschmack vor langer Zeit abhandengekommen ist. Daraus wird die Kessel-Mär lieblos zusammengewürfelt.
Ins "Sanctum" steckt Grey ausschließlich Widerlinge und Idioten aus den unteren Schubladen jenes Schrankes, der die Menschengesellschaft beherbergt. Man denke sich eine beliebige Niedertracht aus und darf sicher sein, sie briefmarkenplatt nachgezeichnet im Grey-Bunker wiederzufinden: Rassismus, religiöser Fanatismus, Sexismus, Herrschsucht, Gier, Egoismus, Dummheit ... Die Liste kann verlängert werden. Selbst der ebenfalls unter die Erde beförderte Hund ist unsympathisch.
Es kann nicht Greys Absicht gewesen sein, dass der Leser das Ableben jeder Figur sehnlich erwartet und freudig begrüßt. Eigentlich dürfte niemand das Ende der Geschichte erleben; dieses grauenvolle Gesindel verdient die Rettung kollektiv nicht! Im Detail bleibt uns kein ausgelaugter Abklatsch einschlägiger Romane, Filme und TV-Serien erspart. Also werden "Ausländer" beleidigt, Frauen begrabscht oder verprügelt, wort- und gewaltreich Familienhierarchien umgestürzt, Kinder vernachlässigt sowie generell (oder aus Prinzip?) gelogen, betrogen und um sich geschlagen. Das soll dramatisch sein und Bestürzung wecken, ist aber in seiner eindimensionalen Häufung kontraproduktiv und erstickt sich selbst.
Dazu passt ein Rücksturz ins Barbarentum, der im Zeitraffer abläuft. Binnen weniger Tage belauern dreckige, grunzende Höhlenmenschen einander und stecken ihre Reviergrenzen ab. Seht nur, wie dünn jene Tünche ist, die wir Zivilisation nennen, will uns Grey vermitteln. So überspitzt und gleichzeitig flach funktioniert das nicht. Wieder weckt das Ergebnis Ärger über vergeudete Lese- und Lebenszeit.
Gut aufgeblasen ist halb verkauft
Während die Menschlichkeit im "Sanctum" den Berg hinuntergeht, bleibt das Rätsel - wer hat Greg Fuller umgebracht? - Nebensache. Hin und wieder wird es erwähnt, um nicht in Vergessenheit zu geraten, und schließlich ‚überraschend' aufgelöst. Das geht unter in einem Wust plötzlicher Erklärungen, nachdem die Höllenfahrt unter der Erde ihr abruptes Ende fand: Wahrscheinlich fiel Grey keine Steigerung der Plagen mehr ein. Selbstverständlich fehlt der übliche Finaltwist nicht, der dem Geschehen nachträglich eine unerwartete Wendung verleihen soll. Man hat gewusst, dass er kommt, jedoch nicht auf ihn gewartet und ist folglich nicht allzu enttäuscht: Auch dieser Schockeffekt verpufft.
Stil und Sprache sind betont simpel. Erzählt wird in der Gegenwartsform, um die Unmittelbarkeit der Ereignisse zu betonen. Jedes Kapitel wird aus der Sicht eines Bunker-Bewohners erzählt, jedes Kapitelende markiert einen kleinen Cliffhanger: Die Fortsetzung der gerade auf die Spitze getriebenen Teilhandlung wird verzögert. Alle diese Tricks können der routiniert erzählten Story weder Leben noch Emotionen einhauchen.
Under Ground kommt hierzulande als Paperback in die Buchläden. Große Schrift und breite Ränder erfreuen den augenschwachen Leser. Wahrscheinlich ließe sich dieses Garn als Taschenbuch auf 250 Seiten stricken - ein Umfang, der kaum noch zu finden ist. Wer heutzutage ein Buch kauft, möchte offenbar nicht nur unterhalten werden, sondern erwartet einen gedruckten Datenträger, der schon durch Format und Gewicht Mehrwert suggeriert.
Sarah Lotz, Heyne
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