Die Tore in der Tiefe
- Heyne
- Erschienen: Januar 1986
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Noch einmal 20.000 Meilen unter dem Meer
Bryan Alexander langweilt sich als intellektuell unterforderter sowie schlecht bezahlter Dozent an einer US-Kleinstadt-Universität zu Tode. Da stirbt eine längst vergessene Tante und hinterlässt ihm nicht nur ein Geldvermögen, sondern auch ihre mit Erinnerungsstücken vollgestopfte Villa.
Als Alexander auf dem Dachboden herumstöbert, fördert er eine Kiste mit kuriosen Aufzeichnungen zutage: Der Seemann Durham Kent berichtet über seine Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Jules Verne. Interessanter ist seine Enthüllung, erst durch ein Raum-Zeit-Portal auf "diese" Erde gekommen zu sein, nachdem er zuvor auf einer parallelen Erde an Bord des Unterseebootes "Nautilus" unter dessen Kapitän Nemo gedient hatte.
Dieser kruden Story kann Alexander nicht widerstehen. Er will vor Ort überprüfen, ob es die Portale tatsächlich gibt. Dank seines neuen Reichtums kann er den Abenteurer Derek Ruffin dazu überreden, ihn mit seinem Schoner "Metamorphose" über den Atlantik nach Europa zu schippern.
In der von Kent angegebenen Meeresregion tut sich tatsächlich ein Übergang auf. Die "Metamorphose" landet in einer Parallelwelt des Jahres 1870 - und wird kurz darauf versenkt. Alexander und Ruffin werden von Kapitän Nemo gerettet, der mit der "Nautilus" zufällig diesen Teil des Meeres befährt.
Nemo ist hocherfreut über seine unfreiwilligen "Gäste". Er nimmt sie mit auf seine Jagd nach dem U-Boot "Krake", das sein Erzrivale Robert Burton alias Robur der Eroberer befehligt. Seit vielen Jahren terrorisiert Robur Nemos Welt. Wohl oder übel schließen sich Alexander und Ruffin Nemo an. Eine gefährliche Reise beginnt, die durch weitere Portale führt und eher selten erfreuliche Überraschungen bereithält ...
Die Welt/en gleich nebenan
Was wäre, wenn ... diese Welt nicht einmalig wäre, sondern unzählige "Spiegel" besäße, die sich in Gestalt und Geschichte jeweils ein wenig voneinander unterschieden? Sie existieren nebeneinander, sodass die Bewohner von Welt A nichts von der Existenz von Welt B, C etc. wissen und ahnungslos ebenfalls parallele Leben führen.
Ist so etwas möglich? Und falls ja: Kann man Verbindung zu diesen parallelen Welten aufnehmen? Das Vorstellungskonzept ist alt; nachweislich hat man sich bereits in der griechischen Antike damit beschäftigt, und sicherlich haben sich Menschen noch früher entsprechende Gedanken gemacht, die nicht überliefert wurden. Von der modernen Naturwissenschaft und hier von der Quantendynamik wird die Vorstellung, nicht in einem Universum, sondern in einem Multiversum zu leben, zumindest theoretisch für realistisch gehalten.
Auf eine praktische Bestätigung waren und sind Geschichtenerzähler natürlich nicht angewiesen. Spätestens die Science Fiction gab ein Spielfeld vor, auf dem sich zahlreiche Autoren mehr oder wenig geistreich austobten, d. h. das Multiversum schriftstellerisch ausloteten. Da der Fantasie anders als den Naturgesetzen keine Grenze gesetzt ist, war - und ist - in der Begegnung zwischen hüben und drüben buchstäblich alles möglich.
Mit Volldampf voraus & gleichzeitig zurück
Die Vergangenheit der Zukunft wird durch zwei Namen geprägt: Jules Verne (1828-1905) und H. G. Wells (1866-1946) repräsentieren eine Phantastik, die einerseits positiv utopisch und andererseits negativ dystopisch geprägt ist. Der späte Verne verlor allerdings seinen Optimismus und ging immer deutlicher auf die Schattenseiten einer ursprünglich bejubelten Hightech ein, für die der Mensch sich keineswegs reif erwies.
Bereits 1869/70 schuf Verne in seinem Erfolgsroman "Vingt mille lieues sous les mers" (dt. 20.000 Meilen unter dem Meer) die Figur des Kapitän Nemo, der zu genau diesem Schluss gekommen ist und der Menschheit deshalb die Teilnahme an den von ihm entwickelten technischen Errungenschaften verweigert. Noch siegt der Fortschrittsgeist, aber nicht einmal zwei Jahrzehnte später ließ Verne in "Robur-le-conquérant" (1886; dt. Robur der Sieger/Robur der Eroberer) einen ebenfalls genialen aber eindeutig irrsinnigen Erfinder die verhasste Welt offen terrorisieren.
Als in den 1980er Jahren eine Retro-Bewegung die Science Fiction erreichte, schlug die Geburtsstunde des "Steampunks". Seine Wiege stand vor allem im viktorianischen England der Jahrzehnte zwischen 1850 und 1900 - eine Zeit, die den Aufgang und Sieg der industriellen Revolution sowie die Erkenntnis ihre Konsequenzen erlebte. Weil Politik und Sozialwesen den Naturwissenschaften und der Technik hinterherhinkten, begann der Riss zwischen beiden Sphären immer breiter zu klaffen. "Fortschritt" musste keineswegs positiv sein, wie man auf die harte Tour lernen musste. Gleichgültige Umweltzerstörung, naive Ressourcenausbeutung, Fabrik-Knechtschaft, globaler Brutal-Kapitalismus: Der Preis war hoch.
Sehnsucht nach "einfacheren" Zeiten
Mehr als ein Jahrhundert später hatte diese Vergangenheit einen nostalgischen Glanz angenommen. Indem der unbändige Forschungs- und Erfindungsdrang der frühindustriellen Ära überhöht wurde, ermöglichte er die Kreation einer "vergangenen" Science Fiction im schicken Retro-Stil. Die düsteren Seiten wurden dabei keineswegs ausgeblendet, sondern unterhaltsam in Abenteuer integriert, in denen dampfbetriebene Hightech quasi vom Gaslicht einer parallelisierten Historie illustriert wurde.
Im Zentrum stand und steht meist London als Herz des britischen Imperiums zurzeit von Queen Victoria. Sie begleitete und verkörperte bereits aufgrund ihrer schier endlosen Regierungszeit (1837-1901) den weiter oben skizzierten Wandel so perfekt, dass man dieser Ärä ihren Namen gab. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass Victoria oft persönlich in den "Steampunk"-Romanen auftritt.
Zum Spiel mit Zeit und Realität gehört die Mischung fiktiver Figuren und historischer Persönlichkeiten. Wie Monteleone mit "Die Tore der Tiefe" zeigt, kann man dabei einen Schritt weitergehen und problemlos Figuren präsentieren, die selbst der Populärkultur der Vergangenheit entstammen. Dabei sind dem Erfindungsreichtum keine Grenzen gesetzt, weshalb Ich-Erzähler Bryan Alexander es mit Kapitän Nemo und Robur zu tun bekommt.
Ihm gelingt es, den beiden Figuren, die ihr Schöpfer Jules Verne nie zusammengeführt hat, glaubwürdig eine gemeinsame Geschichte zu schaffen. Allerdings gibt es Stellen, an denen Monteleone den Handlungsbogen sichtlich überspannt. So ist und bleibt Vernes Robur ein Luftschiffer, während Monteleone ihn irgendwie in Nemos Element, das Wasser, locken muss. Da hilft es der Glaubwürdigkeit, dass Robur selbst niemals persönlich in Erscheinung tritt.
Abenteuer mit sanfter Moral
Obwohl die Lektüre vergnüglich (und erfrischend kurz) ist, fallen dem kritischen Leser nicht erst in der Nachschau formale bzw. strukturelle Probleme auf. So nimmt sich Monteleone viel Zeit für eine Vorgeschichte, die keine gravierenden Informationen für die eigentliche Handlung liefert. Dafür kommt das Finale denkbar abrupt und fällt so knapp bis überstürzt aus, dass man sich fragt, ob den Verfasser urplötzlich die Lust am gesponnenen Garn verlassen hat.
Außerdem scheint Monteleone einer ansonsten vor allem spannenden Story recht halbherzig eine Botschaft unterheben zu wollen. Immerhin klinkt er sich nicht in Nemos Zivilisationskritik ein, die so unverblümt heutzutage nur noch auf größere Entfernung sinnvoll klingt. Monteleones Nemo ist ein leutseliger, gar nicht menschenfeindlicher oder weltfremder Sucher, dem der Verfasser wenig glaubhaft Anflüge (selbst-) mörderischer Besessenheit andichtet. Jules Verne hatte Nemo als Figur deutlich besser im Griff.
Letztlich erschöpft sich die Handlung auf eine Hetzjagd unter Wasser. Das Konzept der (Dimensions-) Tore in der Tiefe wirkt merkwürdig übertrieben. Heutigen SF-Autoren würde es als Fundament für eine mindestens zehnbändige Serie dienen. Monteleone macht nicht viel aus seiner Idee; summa summarum sind es nur drei Tore, die durchquert werden, und richtig exotisch geht es dahinter nicht zu. Hinzu kommt ein Ich-Erzähler als einerseits flache und andererseits uninteressante Hauptfigur.
So bleibt diese Geschichte irgendwo zwischen einem Klassiker und einem einfach nur alten Roman hängen. Monteleone hat ein Gespür für (Retro-) Atmosphäre und nimmt seine Leser, nicht aber sein Garn ernst. Dass der deutsche Leser über manche Wendung und manches Wort stolpert, liegt nicht in der Verantwortung des Verfassers, sondern in der eines Übersetzers, der immer wieder in einen artifiziellen Slang verfällt und diesen mit Alltagssprache verwechselt.
Thomas F. Monteleone, Heyne
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