Im Schlund gefangen mit dem Bösen
Im Westen des Pazifischen Ozeans liegt der Marianengraben, wo der Meeresboden mit 11.034 Metern seine größte irdische Tiefe erreicht. Obwohl dort unten ein Wasserdruck herrscht, der selbst dicke Stahlwände wie Papier zerdrückt, gibt es Leben. Nachdem man dort "Ambrosia" entdeckt hatte, wurde unter immensen Kosten die Station "Trieste" direkt auf dem Meeresgrund errichtet. Vier dort einquartierte Wissenschaftler sollen den merkwürdigen Stoff, der möglicherweise jede bekannte Krankheit heilt und sogar Unsterblichkeit verspricht, nicht nur untersuchen, sondern in möglichst großen Mengen "ernten".
Seit einiger Zeit meldet sich die Männer der "Trieste" nicht mehr. Sie haben sich in der Station verbarrikadiert. Als einer von ihnen zur Versorgungsplattform "Hesperus" an die Meeresoberfläche zurückkehrt, ist er nicht nur tot, sondern der Leichnam grotesk entstellt. Da jeder gewaltsame Versuch, in die "Trieste" einzudringen, die Station unweigerlich zerstören würde, holen die Verantwortlichen den Tierarzt Lucas Nelson auf die "Hesperus": Sein Bruder, der geniale aber gefühlskalte Naturforscher Clayton Nelson, gehört zu denen, die sich an Bord der "Trieste" verbergen, und hat ausdrücklich nach Lucas verlangt.
Mit einem Mini-U-Boot und in Begleitung der Tauchpilotin Alice Sykes reist Lucas in die Tiefe. Der Empfang ist unfreundlich: Zwar lässt sich Clayton dazu herab, die Ankömmlinge zu empfangen, doch bestreitet er, den Bruder gerufen zu haben. Lucas glaubt ihm nicht, zumal Clayton ganz offensichtlich etwas verbirgt. Seine beiden Kollegen haben sich in ihren Labors eingeschlossen; auch sie hüten Geheimnisse.
Lucas und Alice finden heraus, dass es auf der Station umgeht. Bizarre Kreaturen scheinen sie zu verfolgen, verstörende Visionen lassen die Realität verschwimmen. Als die Verbindung zur Oberfläche abbricht, gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass hinter den Ereignissen eine intelligente, böse Macht steckt ...
Die Wiege des Lebens - und sein Grab
Unabhängig von der Frage, ob das Leben auf dieser Erde entstand oder seine Bestandteile von Kometen herantransportiert wurden, gilt immerhin als sicher, dass es im Wasser entstand. Die Ur-Ozeane der Welt muss man sich wie eine Suppe vorstellen, in der besagtes Leben aus Leibeskräften experimentierte. Unzählige Kandidaten blieben auf der Strecke, nur wenige Glückspilze triumphierten, doch manche Pechvögel fanden immerhin ökologische Nischen, in denen sie sich verkriechen konnten, weil die Konkurrenz dankend abwinkte.
Solche Winkel kamen erst spät und dann oft buchstäblich an Licht. Nicht grundlos heißt es, dass der Weltraum besser erforscht ist als die Tiefen der irdischen Ozeane. Das hat seine Gründe, von denen der Druck die Primärschwierigkeit darstellt: Wasser hat ein beträchtliches Gewicht. Je tiefer man taucht, desto höher wird die Wassersäule, die auf dem Körper lastet. Jeder Hohlraum wird zusammengedrückt, wobei die Schmerz- bzw. Todesgrenze rasch erreicht ist.
So ist es kein Wunder, dass auch moderne U-Boote im Oberflächenbereich der Ozeane verharren. Je tiefer es hinabgeht, desto mehr muss in die Stabilität von Wänden und Fenstern investiert werden, ohne in seinem Tauchboot wie in einer überdimensionierten Bierdose zerknüllt zu werden. Während Menschen immerhin sechs Mal auf dem Mond landeten, wurde die mit 11.034 Metern tiefste Stelle des Meeres - das Witjastief 1 im Marianengraben - erst zweimal besucht (1960 und 2012 von James Cameron, dem Regisseur von Filmen wie "Titanic" und "Avatar").
Ganz unten und schon deshalb bedrohlich
Bereits 1960 stellten Jacques Piccard (1922-2008) und Don Walsh (*1931) bei ihrem Abstieg mit dem Tauchboot "Trieste" (!) fest, dass selbst auf dem Grund des Marianengrabens Tiere lebten. Bisher hatte man sich die kalten und lichtleeren Meerestiefen als nasse Wüsten vorgestellt. Diese Vorstellung musste radikal revidiert werden, denn seit 1960 wurden immer neue und zum Teil außerirdisch anmutende Öko-Inseln entdeckt und untersucht.
Für Nick Cutter stellten diese Forschungen, auf die er sich im Rahmen seines Romans mehrfach ausdrücklich stützt, eine Steilvorlage dar. Natürlich war er nicht der erste Autor, der es unter Wasser spuken ließ. Die erste Hälfte von Die Tiefe wirkt wie eine modernisierte Version des modernen Thriller-Klassikers "Sphere" (dt. Sphere - Die Gedanken des Bösen). Hier ließ Michael Crichton (1942-2008) seine Protagonisten auf ein versunkenes ET-Raumschiff stoßen, dessen Bewohner die Hirne der Besucher manipulierte - mit bösen Folgen selbstverständlich.
Aber Cutter schlägt bald seinen eigenen Weg ein. "Sein" Übel unter der Oberfläche ist gleichermaßen symbolisch wie konkret, wobei in beiden Fällen die Tiefe verantwortlich ist. 11.000 Meter unter der Meeresoberfläche gesellt sich zu den physikalisch bedingten Gefahren die psychische Furcht: Der Marianengraben mit seinen steilen Wänden ist auch der "Abgrund" oder "Schlund", dem Friedrich Nietzsche (1844-1900) mit seinem Aphorismus 146 in "Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft" 1886 ein Denkmal setzte:
"Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein."
Unbewältigtes im Seelen-Rucksack
Damit ist die Handlung umrissen. Autor Cutter schichtet förmlich Stein um Stein auf Lucas' Seele und enthüllt in zahlreichen Rückblenden ein bereits in der Kindheit gestörtes und gescheitertes Leben. Er ist deshalb ein ebenso leichtes Opfer wie sein Bruder Clayton, obwohl dieser als kühl-rationaler Forscher wissentlich in den Abgrund geblickt hat.
Was sich am Grunde des Meers verbirgt, ist faktisch eine Falle für sämtliche Besucher. So wurde sie konstruiert, und sie funktioniert tadellos, obwohl sich zumindest der unbeteiligte Leser wundert: Schon bevor sie endgültig zuschnappt, beschert diese Falle ihren Insassen die Hölle auf Erden. Zwar ist eine Flucht unmöglich, doch sollte man angesichts des eigentlichen Verwendungszwecks davon ausgehen, dass die Fallensteller sich schneller holen, was sie geschnappt haben.
Als wir sie dann kennenlernen, wird die Diskrepanz verständlicher. Details werden an dieser Stelle nicht verraten. Hervorzuheben ist, dass Cutter das seltene Kunststück gelingt, eine Auflösung zu präsentieren, die dem vorab seitenstark aufgerollten Mysterium einen (denk-) würdigen Abschluss gibt. Man könnte hier durchaus an eine Neuinterpretation jener Kosmologie denken, die H. P. Lovecraft (1890-1937) in seinem "Cthulhu"-Zyklus etablierte. Die Zeiten haben sich jedoch geändert: Wo Lovecraft seine dimensionsfremden Entitäten als jederzeit unmenschlich schilderte, setzt Cutter eine sadistische Freude an der Tortur voraus, denn Spaß an der Arbeit möchten heutzutage auch die Mächte des Jenseits empfinden!
Der Körper als Spielwiese
Bis es soweit ist, tut Cutter dem menschlichen Körper praktisch jede denkbare Gewalttat an. Er wird zerbrochen, zermalmt, zerschlitzt, zerteilt, neu zusammengesetzt, dabei mit anderen Körpern kombiniert ... Die Liste kann verlängert werden. An Bord der "Trieste" bricht darüber die Hölle aus. Einen Sinn für schwarzen Humor darf man den Verursachern nicht absprechen: Sie verwandeln ein Forschungslabor in ihr Spielfeld, indem sie Wissenschaftler und Versuchstiere die Positionen tauschen lassen.
Allerdings neigt der Verfasser in Sachen Body-Horror zu einem Overkill, der den beabsichtigten Gruseleffekt manchmal ins Gegenteil verkehrt: Wird Gemetzel allzu übertrieben, wirkt es leicht lächerlich. Hier wird ohnehin mit Kanonen auf Spatzen geschossen, weil Cutter schon die noch nicht heimgesuchten Nelson-Brüder mit ordentlichem Dachschaden antreten lässt. Vor allem Lucas ist ein viel zu leichtes Opfer.
Die Isolation und eine unwirtliche Umgebung tragen zur unheimlichen Spannung bei. Cutter übertreibt es nicht mit der Darstellung technischer "Fakten"; Die Tiefe ist kein Wissenschaftsthriller. Stattdessen lässt er die Fremdartigkeit des Marianengrabens in die Handlung einfließen. Ohne an reale Vorbilder gebunden zu sein - in 11.000 m Tiefe wird noch lange oder nie eine Station entstehen - kann Cutter auch die "Trieste" in einen ungastlichen Ort verwandeln, an dem es Besucher schon graust, bevor sich der Spuk zu Wort meldet.
Ungeachtet des extremen Unterwasser-Szenarios sollte man der Story keinen tieferen Sinn unterstellen. Cutter spinnt ein Garn, wobei ihm jedes Mittel und jeder Trick recht ist, sein Publikum zu packen. Besondere Konzentration ist seitens des Lesers nicht erforderlich, wofür auch die oft nur zwei- oder dreiseitigen Kapitel sorgen. Dies ist das Pendant zu einem Spielfilm der B-Kategorie, weshalb die gebührende Reaktion lautet: Lesen, Spaß haben, vergessen, was kein Verbrechen ist, wenn solides Unterhaltungshandwerk geliefert wird.
Nick Cutter, Heyne
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