Horrorstör
- Droemer-Knaur
- Erschienen: Januar 2015
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Haunted Hill meets Ikea
Amy, gescheiterte Studentin, hält sich mehr schlecht als recht mit unterbezahlten und nervigen Jobs über Wasser. Aktuell als Verkäuferin im Orsk-Möbelhaus in Cuyahoga County, Ohio. Der stellvertretende Filialleiter Basil, junger Farbiger vom Typ überehrgeiziger Streber, hat sie auf dem Kieker und Amy tut alles dafür, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber an diesem ersten Donnerstag im Juni gelingt ihr das nicht, ist doch unerklärlicher-weise der elektronisch gesicherte Mitarbeitereingang ohne Funktion und all die lemmingartigen Orsk-Mitarbeiter gezwungen sich über den Haupteingang und die nur in entgegengesetzter Richtung laufende Rolltreppe Zutritt zum Gebäude zu verschaffen. Schon wird sie zum Mitarbeitergespräch im Motivationszimmer zitiert – aber was macht Ruth Anne dort? Ist sie doch die mit Abstand bei allen beliebteste Kassiererin der Orsk-Familie und mit ihren 14 tadellosen Dienstjahren ein echtes Urgestein.
Die sich in letzter Zeit häufenden unerklärlichen Ereignisse in der jüngsten Filiale des Unternehmens, die sich mittlerweile auch auf die Umsatzzahlen auswirken, verlangen nach ungewöhnlichen Maßnahmen und so "bittet" Basil Amy und Ruth Anne gegen zusätzliche Bezahlung bar auf die Hand, die Amy gerade mal wieder gut gebrauchen kann, mit ihm zusammen die Nacht im Laden zu verbringen und mit stündlichen Kontrollrundgängen der Ursache auf den Grund zu gehen. Dass am Ende alle drohen den Verstand zu verlieren und/oder tot sind, hätten sie sich nie träumen lassen.
Stereotype junge Menschen – zu den dreien gesellen sich noch Trinity, die allem Übernatürlichen zugetane Hippiebraut mit dem nervigen Sonnenschein-Gemüt, und Matt, der seinen Job ähnlich zynisch sieht wie Amy aber alles dafür tun würde, um Trinity flachzulegen – ein Gebäude, das auf einer schrägen Heil- und Besserungsanstalt aus dem 19. Jahrhundert erbaut wurde (lässt sich auch beliebig gegen einen Friedhof, eine Psychiatrie oder ein Gefängnis austauschen) und selbstredend die Geister all der Verstorbenen: Ja, das haben wir alles schon mal gelesen oder gesehen, mit größeren Schockmomenten, mit mehr Blut, mit verschlungeneren Plots und ausgefeilteren Charakteren. Aber als eine nahezu 1:1 Kopie eines Ikea-Kataloges mit detailreichen Einblicken in Strukturen eines Großkonzerns, der sich und seine Angestellten als eine gehirngewaschene Zombie-eske Familie sieht, wohl noch nicht. Und Gary Hendrix bringt das mit viel Humor und einem kino-gerechten flottem Schreibstil zu Papier. Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die ausgesprochen gelungenen Möbelkreationen ganz im Stile des schwedischen Vorbilds, die sich von Kapitel zu Kapitel von einfachen Esstischstühlen mit skandinavisch anmutenden Namen zu Folterinstrumenten wandeln und dennoch in dem selben Marketingsprech dem Katalogdurchblätterer angepriesen werden. Bis hin zum Kleingedruckten auf dem heraus zu trennenden Bestellformular ist an wahrlich alles gedacht worden.
Sie warf einen letzten Blick in das Zimmer und stellte fest, dass das Schild an der Wand sich verändert hatte. Früher hatte dort gestanden: "Die harte Arbeit macht eine Familie aus Orsk, und alle leisten sie freiwillig." Doch das Wasser, das an der Wand herabrann, hatte einen Großteil der Buchstaben weggewaschen. Jetzt stand dort nur noch: "Arbeit macht frei."
Das ist nun wirklich das einzige Zitat, das man als Stolperstein anbringen kann. Es ist leider nicht klar, ob es an der Übersetzung liegt oder im amerikanischen Original dieselbe Wirkung auf den amerikanischen Leser hat, hierzulande jedenfalls hallt es noch ein paar Seiten nach, ist es doch als Anspielung gar zu plump für die Story um den Aufseher Josiah Worth, der die verkommenen Seelen der Insassen seiner Anstalt mit stupider Wiederholung sinnfreier Arbeit von ihren Leiden heilen wollte. Ja, man hätte das Bild der Häftlinge des "Bienenstocks", wie Josiah sein Werk selbst nennt, in ihrer gestreiften zerlumpten Kleidung im Gleichschritt durch die Verkaufsausstellung auf dem "hell erleuchteten Pfad" (der vorgezeigte Rundgang durch Orsk) schlurfend oder stumpf Stühle im Kreis herum reichend auch ohne dies verstanden. Die Parallelen, die Hendrix zur Orsk-Familie in ihren einheitlichen Poloshirts und den dunkelblauen Chucks mit all ihren "freundlich" formulierten Regeln, Handbüchern für Verkäufer und Führungskräfte und dem aus realen Möbelgeschäften erschreckend genau kopiertem immer gleichem Aufbau einer jeden Orsk-Filiale weltweit zieht, schmelzen da weitaus subtiler in die Geschichte ein.
Ein paar werden überleben und die Suche nach ihren Freunden dieser einen Nacht im Juni nicht aufgeben, auch wenn mittlerweile eine andere Ladenkette das Gebäude am Autobahnzubringer bezogen hat. Es könnte somit eine Fortsetzung geben, die man dem Buch aber nicht wünscht. In Horrorstör ist alles gesagt, jede Metapher sitzt, jeder vergangene und gegenwärtige Schrecken von Monotonie und Stumpfsinn erzählt. Der Leser bleibt gut und kurzweilig unterhalten zurück. Mit der Gewissheit sich nie wieder dem Kindertraum hinzugeben, nachts in einem Kaufhaus eingeschlossen sein zu wollen und garantiert beim nächsten Ikea-Besuch jede Türattrappe kritisch auf tadellose Verschlossenheit zu untersuchen und jede Abkürzung vom vorgegebenen Rundgang mindestens ein Mal zu nehmen – nur um sich selbst zu beruhigen, dass man es kann!
Grady Hendrix, Droemer-Knaur
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