Der Aufbruch

  • DuMont
  • Erschienen: Januar 2015
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Der Aufbruch
Der Aufbruch
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Michael Drewniok
55°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2015

Viel Grusel-Lärm um praktisch Nichts

In Niceville, einer Kleinstadt in den US-Südstaaten, geht es um. Das Böse hockt auf Tallulah's Wall, einer schroffen Bergwand, die über Niceville aufragt. Oben liegt Crater Sink, ein mit pechschwarzem Wasser gefüllter, scheinbar grundloser Teich, den schon die Ureinwohner mit berechtigtem Misstrauen beobachteten, denn hier scheint sich besagtes Böse zu konzentrieren und aktuell sogar auf dem Sprung in die Stadt zu sein: Immer mehr Bürger werden von einer summenden Stimme heimgesucht, die sich in ihren Hirnen manifestiert und sie in blutrünstige Massenmörder verwandelt.

Parallel dazu gehen seltsame Kreaturen in den Straßen um. Zu ihnen gehört der Ex-Polizist Danziger, der mit seinem Kumpanen Coker einen Bargeldtransporter überfallen und vier Kollegen getötet hat. Später wurde Danziger selbst erschossen, doch er wacht wieder auf und versucht zu begreifen, wie ihm geschehen ist.

Detective Nick Kavenaugh und seine Ehefrau Kate müssen feststellen, dass ihr Pflegesohn Rainey Teague zu den Opfern des Bösen gehört. Er hat bereits getötet und soll nach dem Willen der Macht, die ihn beherrscht, dem Geist seines durch und durch bösen Vorfahren Abel als neuer Wirtskörper dienen. Abel wurde eigentlich bereits besiegt und getötet, doch das hindert ihn keineswegs, weiterhin seine Intrigen zu spinnen.

Ein Nachfahre der lokal ansässigen Ureinwohner identifiziert die uralte Kreatur, die im Crater Sink lauert. Eventuelle Gegenmaßnahmen haben sich nur bruchstückhaft überliefert, was den Kampf gegen das Böse in ein Himmelfahrtskommando verwandelt. Kompliziert wird die Situation durch einen Auftragsmörder der Mafia, die mit dem untergetauchten Coker ein Hühnchen rupfen will. Die Situation gerät endgültig außer Kontrolle, als einerseits das Böse Crater Sink verlässt, um über Niceville herzufallen, während es andererseits Abel Teague gelingt, seinem Gefängnis zu entrinnen ...

Aller guten Dinge sind drei?

Die Drei gilt in zahlreichen Kulturkreisen als Glückszahl, woraus sich u. a. das als Kapitelüberschrift zitierte Sprichwort speist. Leider sieht die Realität zumindest (aber nicht nur) in der (unterhaltenden) Kunst oft anders aus und folgt einer anderen Spruchweisheit: "Getretener Quark wird breit, nicht stark". Die daraus resultierende Enttäuschung ist umso stärker, wenn beispielsweise in der Literatur die Werke 1 und 2 die Erwartung eines Publikums wecken, das "Fortsetzung" mit einer stetigen Steigerung inhaltlicher Spannung gleichsetzt, die sich im Teil 3 gefälligst zum finalen Feuerwerk zu steigern hat.

Genau dies wurde offensichtlich Carsten Stroud zu einem kapitalen Problem, dessen Lösung ihn überforderte. Mit den ersten beiden Bänden seiner "Niceville"-Trilogie hatte er seine Leser erst angefüttert und dann an sich gefesselt. Unerhört sicher wusste Stroud die Genres Horror und Thriller in einer höllisch spannenden Handlung zu kombinieren, die der Autor mit eindringlich gezeichneten Figuren besetzte. Ohne Furcht vor Klischees ließ Stroud immer neue Mysterien und Schrecken aus dem Crater Sink emporquellen und schürte die Vorfreude auf eine Auflösung, die alle Fragen - und sie addierten sich zu einer beachtlichen Liste! - im Rahmen eines furiosen Geschehens beantworten würde.

Nun kreißte der Berg endlich, doch er gebar ein Mäuslein. Der erfahrene Leser wurde bereits unruhig, als Stroud das dritte "Niceville"-Buch nicht wie geplant und angekündigt 2014 vorlegte. Zu diesem Zeitpunkt befürchtete er (= der erfahrene Leser) einen dieser Trilogie-Endbände, die aufgrund der noch offenen Fragen Ziegelsteindicke erreichen, ohne dem Umfang inhaltliche Relevanz entgegenhalten zu können. Die Realität ist wesentlich bitterer und Der Aufbruch ein erstaunlich seitenarmer Band, dessen Autor nie ernsthaft oder gar raffiniert versucht, die aufgeworfenen Themen zu ordnen, abzuarbeiten und abzuschließen.

Aufbruch? Welcher Aufbruch?

Dass es mit dem erwarteten Höhepunkt nichts wird, ahnt der Leser spätestens nach einem ersten Buchdrittel, das die Gesamtstory in keiner Weise weiterentwickelt, sondern wie bisher von neuen Seltsamkeiten erzählt. Die Restlektüre schmilzt besorgniserregend zusammen, ohne dass der Verfasser Anstalten macht, endlich das große Finale in Angriff zu nehmen. Fade und fahrig spulen zuvor gut konturierte Figuren Aktionen ab, die beunruhigend beliebig bleiben. Schließlich wird es traurige Gewissheit: Stroud hat entweder selbst keine Ahnung, wie er seine Geschichte zu Ende erzählen soll, oder er hat die Lust an der "Niceville"-Saga verloren. Die Zeche zahlen die Leser: Sie halten ein Buch in den Händen, das im besten Fall mittelmäßig unterhält und im schlimmsten Fall die beiden Vorgängerbände verrät.

Man konnte die Bruchlandung eigentlich ahnen. Die meisten Mysterien leben von ihren Geheimnisse. Werden diese gelüftet, kommt dahinter selten Faszinierendes zum Vorschein. Stroud macht es sich besonders einfach. Er wandelt auf den Spuren H. P. Lovecrafts und setzt eine urzeitliche, womöglich erdfremde Energie-Intelligenz in die Welt, deren Handeln vor allem deshalb motivdunkel bleibt, weil sie so "fremdartig" ist - ein Schuss, der nach hinten losgeht, da zu eindeutig wird, dass sich Stroud vor Antworten drücken will.

Die bisher behauptete Homogenität einer mehrsträngigen Handlung löst sich in Missgefallen auf, weil die Stränge nicht wirklich zueinanderfinden. So bestreitet Strolch-Cop Coker, eine Hauptfigur in den "Niceville"-Bänden 1 und 2, quasi eine separate Geschichte, in der er den Unwillen einer Mafia-Sippe erregt, die ihm u. a. einen vertierten Folter-Killer (aus dem ehemaligen Ostblock - US-Autor Stroud weiß, wo das Böse brütet!) auf den Hals schickt. Coker entledigt sich seiner Gegner, aber unbeantwortet bleibt wohlweislich die Frage, was das mit den Niceville-Ereignissen zu tun hat: Es gibt keine logische Verknüpfung; Cokers Lumpenvertilgung spielt sich gänzlich außerhalb der heimgesuchten Gemeinde ab.

Das Faseln der Lämmer

Dort spitzt sich das Geschehen beklagenswert monoton zu. Plötzlich taucht Finsterbold Abel Teague, den wir nach seinem (ge-) recht brutalen Ende bereits fast vergessen hatten, als Geist wieder auf und beansprucht erneut eine Hauptrolle. Das gipfelt in einer Geisterhatz zu Pferde (!) und ist kontraproduktiv angesichts der angeblich viel größeren Bedrohung, die Niceville in Gestalt des "Nichts" droht: Stroud trennt die Handlung sich ausgerechnet auf der Zielgeraden in zwei Stränge, statt zielgerichtet alle Fäden zusammenzuführen. Ohnehin bleibt das Finalduell zwischen "Gut" und "Böse" aus. Die Konfrontation mit dem "Nichts" kommt - geht - und der Leser reibt sich verwirrt die Augen: Die überirdisch übermächtige Kraft, die drei Bände ihre Rückkehr auf die Erde vorbereitet hat, lässt einfach locker und verschwindet. Das Motiv bleibt offen, umso größer ist die Enttäuschung. Dann ein Epilog: Stroud springt einige Monate in die Zukunft. In Niceville herrscht wieder Friede, der Terror ist vergessen. Ein solcher Rausschmiss aus einer vor die Wand gefahrenen Story ist dreist aber wundert nicht mehr.

Da helfen auch die Lügen prominenter Schriftstellerkollegen nicht: "Carsten Strouds Niceville-Trilogie ist genial, und das Beste hat er sich bis zum Schluss aufgehoben." Liest man dieses Zitat auf der Rückseite des Schutzumschlags und den Namen "Stephen King", weckt dies beim nun schon mehrfach genannten erfahrenen - und durch derartige Lobeshymnen getäuschte - Leser erst recht Argwohn (oder Besorgnis): Wie steht es um die Urteilskraft eines Mannes, der den modernen Horror mitgestaltet und seine einschlägigen Kenntnisse in mehreren Sachbüchern und vielen Essays unter Beweis hat? King kann keineswegs ernstmeinen, was er da angeblich verzapft. Offenbar wird er pauschal für positive Worthülsen bezahlt, die Verlage anschließend auf Hoffentlich-Bestseller verteilen, ohne auf Inhalt oder gar Qualität zu achten.

Weniger kritische Leser mögen anmerken, dass alle diese Einwände ein Klagen auf hohem Niveau darstellen. In der Tat ist Der Aufbruch immer noch besser als das Gros jener Reißbrett-Mystery, unter der sich die Regalbretter der Buchhandlungen global biegen. Selbst ein Carsten Stroud auf Autopilot kann schreiben. Dennoch hat er seinen Ruf verspielt, der ihn als Hoffnung auswies, für frischen Wind in genau diesen Routine-Muff zu sorgen.

Der Aufbruch

Carsten Stroud, DuMont

Der Aufbruch

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