Der unsichtbare Apfel
- Kiepenheuer & Witsch
- Erschienen: Januar 2014
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Verstörend, zauberhaft und wunderschön
Der unsichtbare Apfel ist ganz anders, als das, was man erwarten mag. Auf den Leser wartet ein stilistisch hervorragendes Stück Philosophie, verpackt in der Lebensgeschichte des unverstandenen und teilweise autistisch scheinenden Igor, der versucht, in einer Welt zurecht zu kommen, in der alles standardisiert und scheinbar nutzlos ist.
Zu Beginn wird die Kindheit und Jugendzeit Igors leider enttäuschend kurz aber exemplarisch abgerissen. Der Protagonist wir so eingeführt und vorgestellt. Trotz der Kürze gewinnt die Figur spätestens dann den Leser für sich, wenn er als Schüler den Direktor seiner Schule darauf hinweist, dass der klassische (deutsche) Unterricht weder Tast-, Gehör-, noch Geruchsinn trainiert und somit mangelhaft ist. Und das tut er nicht aus einer böswilligen Absicht heraus, sondern weil es für ihn schlicht und ergreifend so ist.
Schließlich findet er sich damit ab, dass er sich den vorherrschenden Strukturen fügen muss, wenn er angemessen leben will. So nimmt er einen Job an, mit dem er gerade so viel Geld verdient, wie er braucht, um das Nötigste zu bezahlen: Miete, Nahrung und Kleidung.
Um sich selbst und dem Sinn seiner Existenz näher zu kommen, beschließt Igor schließlich im Alter von 23 Jahren, einen eigentümlichen Versuch zu machen. Hundert Tage lang sperrt er sich in einer abgedunkelten und schallisolierten Wohnung ein.
Es folgt eine kafkaesk anmutende Erzählung seines Lebens und der Erfahrungen die er macht. Man fühlt sich ständig an alternativ-religiöse oder psychologische Ratgeber und Strategien und Lebensratgeber erinnert. Dies ist aber nicht störend oder gar klischeehaft, sondern bewirkt, dass sich der Leser aktiv, gewollt oder ungewollt, mit den gleichen Fragen konfrontiert sieht, die sich Igor ständig stellt. Man fragt sich nach Sinn und Sinnhaftigkeit der Dinge des täglichen Lebens und erkennt seine eigene Unmündigkeit (Kant lässt freundlich zwinkernd grüßen). Nicht nur unmündig sondern auch gänzlich ohne Eigenverantwortung, so beschreibt das Buch den modernen, industrialisierten Menschen. Dabei ist es so elegant, vorwitzig und mit einem hohen Maß an sprachlicher Feinheit geschrieben, dass es ein wahrer Genuss ist, sich seiner eigenen Unfähigkeit bewusst zu werden.
Es geht weniger um die Handlung, die köstlich abstrus und doch erschreckend alltagsnah ist, als um die Botschaft. Der Autor Gwisdek legt ein einmaliges Buch mit so viel Inhalt und Potential vor, dass ein einmaliges Lesen nicht ausreicht.
Lesen, verdauen und noch einmal lesen. Und dann wieder von vorne.
Robert Gwisdek, Kiepenheuer & Witsch
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