Eine Geschichte zweier fremder, doch vertrauter Welten
1998 – die Gegenwart: Der ökologische Kollaps der Erde steht bevor. Die ungebremsten Umweltzerstörungen der Vergangenheit haben das Klima verändert, die Meere vergiftet, lebenswichtige Urwälder zu öden Wüsten verkommen lassen. Hungersnöte, Dürren, Seuchen töten die Menschen zu Millionen. Lange beschränkte sich das Sterben auf die beruhigend ferne Dritte Welt, aber nun sind auch die saturierten Industriestaaten der Nordhalbkugel an der Reihe. Lebensmittel und Energie werden knapp, die Wirtschaft bricht zusammen, das soziale Netz beginnt zu reißen. Die Länder der westlichen Welt haben sich zu einer Notgemeinschaft zusammengefunden. Der mächtige ";Zentralrat"; verwaltet diktatorisch die ständig knapper werdenden Ressourcen, um die erbitterte Verteilungskämpfe toben.
Ziemlich am Ende der langen Schlange von Bittstellern stehen wie zu allen Zeiten die Wissenschaftler. Sie werden von der Öffentlichkeit und wetterwendischen Politikern für die Krise mitverantwortlich gemacht, von Maschinenstürmern, Ökoterroristen und fundamentalistischen Weltuntergangs-Sekten verfolgt. Trotzdem verfolgen die Physiker John Renfrew und Gregory Markham ein Projekt, das ihnen die Aufmerksamkeit und damit die Gelder des Zentralrates sichern wird, wenn es denn gelingt. Sie haben entdeckt, dass überlichtschnelle Tachyonenstrahlen die Grenzen von Raum und Zeit durchbrechen können. Dies macht es theoretisch möglich, Botschaften in die Vergangenheit zu morsen. Nur braucht es dazu einen Empfänger und Menschen, die eine Nachricht aus der Zukunft als solche erkennen. Renfrews und Markhams Recherchen haben ergeben, dass im Jahre 1962 bei einem physikalischen Experiment in Kalifornien Geräte zum Einsatz kamen, die modulierte Tachyonenstrahlung empfangen konnten.
1962 – auch die Gegenwart: Die USA, ein Wirtschaftswunderland. Konsum ist Trumpf in dieser Welt, in der nicht einmal der Himmel eine Grenze darstellt. Die Naturwissenschaften profitieren vom Geldsegen, denn von den Ergebnissen ihrer Forschungen erhofft man sich viel für den Fortschritt. So ärgert sich Gordon Bernstein, Physiker und Assistenzprofessor, höchstens über seine Studenten oder allzu penible Vorgesetzte, wenn er in seinem auf dem neuesten Stand gebrachten Laboratorium ans Werk geht. Gerade ist der Ärger besonders groß, weil die Vorbereitungen für ein wichtiges Experiment ins Stocken geraten sind. Die empfindlichen Geräte monieren eine merkwürdige Störstrahlung, die sich einfach nicht orten lässt. Der aufmerksame Bernstein und Assistent Cooper vermeinen Worte, ja ganze Sätze aus dieser Strahlung lesen zu können, doch damit stehen sie ziemlich allein. Schlimm trifft es die unglücklichen Forscher, die zudem das Establishment herausgefordert haben.
Und während in der Vergangenheit der intellektuelle Zweikampf bis aufs Federmesser tobt, verlöschen in der Zukunft langsam die Lichter…
Mehr Zukunft als uns lieb sein kann
Wenn uns die Chance geboten würde, noch einmal von vorne anzufangen, würden wir alles besser machen, nicht wahr? Der alte Traum, den Karren mit einem Trick aus dem Dreck zu ziehen, statt selbst mühsam selbst Hand anlegen zu müssen, wird auch in der ";Zeitschaft";-Parallelwelt von 1998 geträumt. Freilich geschieht dies – zumal in einem Science Fiction-Roman – ungewöhnlich glaubwürdig. Hier lässt ein Autor nicht in jedem zweiten Satz eine Sonne bersten, weil’s so schön knallt, sondern hat sich bemerkenswerte Mühe gegeben, eine glaubhafte Zukunftswelt zu entwerfen. Das ist ihm ohne Einschränkungen gelungen, obwohl diese Zukunft inzwischen schon wieder zur Vergangenheit und von der Realität eingeholt wurde.
Dies freilich nicht so sehr, wie man meinen könnte. Natürlich ist ";Zeitschaft"; ein Monument seiner Zeit, der 1980er Jahre. Das wird besonders in einem Grundton greenpeaciger Hysterie fassbar, die jede achtlos in den Graben geworfene Bierdose als Nagel im Sarg von Mutter Erde deutet. Da solche angekündigten Katastrophen bisher ausblieben, sind wir entspannter geworden (oder haben resigniert). Deshalb lässt nicht der Umweltgedanke ";Zeitschaft"; in diesen Tagen so aktuell erscheinen: Es sind die von Benford klug und unheilvoll realistisch skizzierten Folgen eines zivilisatorischen Super-Gaus, der nicht durch Amok laufende Algen, sondern auch durch eine weltweite Wirtschaftskrise in Gang gesetzt werden kann. Wenn ";Zeitschaft"; frösteln macht, dann als Prognose für unsere eigene nahe Zukunft oder sogar Gegenwart. Mit bemerkenswerter Scharfsicht beschreibt Benford, wie das soziale Netz der Industriestaaten erst fadenscheinig wird und dann reißt – nicht mit einem Donnerschlag, sondern leise und langsam, dann immer schneller, bis selbst die Politik ihre Vertuschungen und Verdrängungen aufgibt. Sobald die Not den Wohlstand ersetzt, löst sich jede Solidarität auf, ist sich jeder selbst der Nächste.
Realistische Weltsicht ohne Verbitterung
Am Ende der Hierarchie stehen zusammen mit denen, die keine Stimme besitzen im Kampf der Mächtigen und Fordernden, wie immer Kultur und Wissenschaft. Benfords Haltung ist unmissverständlich: Diese Welt muss vor die Hunde gehen ohne Forschung, weil sie nichts Neues schaffen, sondern nur Altes ausschlachten kann – eine Prozess, der ohne Input irgendwann notgedrungen enden muss. Aber im Sozialkampf sind Wissenschaftler selbst in normalen Zeiten der ";Konkurrenz"; stets unterlegen. Dies war ebenfalls zu allen Zeiten so – Benford verdeutlicht es, als er überblendet in die vordergründig goldene Vergangenheit der 1960er Jahre. Selbst unter idealen Voraussetzungen finden die Menschen andere Knüppel, die sie sich zwischen die Beine werfen können – das System ist immer stärker.
Letztlich bleibt sich Benford treu: Zumindest in seiner Geschichte setzt sich die Wissenschaft durch, die Botschaft kommt an, die Vergangenheit und damit die Zukunft ändert sich. Einen Triumph kann man dies allerdings nicht nennen, das befürchtete kitschige Happy-End bleibt aus. Die Zeit lässt sich nicht wirklich besiegen, und wieso dies so ist, macht Benford uns wiederum überzeugend klar.
Ein Röntgenblick in den Elfenbeinturm
Dass ihm dies so großartig gelingt, ist auch der Figurenzeichnung zu verdanken. Wissenschaftler werden gern als weltfremde Eierköpfe hingestellt, deren Denken und Handeln man nicht versteht, die man deshalb ungern für beides bezahlt und von denen man trotzdem die prompte Lieferung fortschrittlicher Wunder erwartet. Im Film kann man über sie lachen, wenn sie kläglich an den Hürden scheitern, die laut Volkes Stimme als unabdingbare Voraussetzungen vor einem zufriedenen, weil ";normalen"; Leben stehen (Raffen, Rempeln, Rammeln), oder sie fürchten, wenn sie – stets des Wahnsinns liebstes Kind – die Welt zerstören möchten.
Ganz selten wird hinter die Fassade des Elfenbeinturms geschaut. Gregory Benford, der als Physiker selbst zu seinen Bewohnern zählt, versucht nun das nur scheinbar Unmögliche. ";Zeitschaft"; erzählt nicht nur eine wunderbare Science Fiction-Geschichte, sondern ist auch das Psychogramm einer Zunft, der ganz offensichtlich Menschen wie du und ich angehören, selbst wenn es zu ihrem Arbeitsalltag gehört, Atome zu spalten oder nach dem Urknall zu horchen. Harte Arbeit, Frustration, manchmal ein kleiner Triumph, missliebige Vorgesetzte, Konkurrentendruck, Neid – plötzlich kommt einem die Welt der Wissenschaftler recht vertraut vor. Feste Regeln herrschen, Beziehungen sind alles, und es gibt Strömungen, nach denen man sein Fähnchen drehen sollte, um in der Hierarchie voranzukommen.
Aber Benford geht weiter. Ihm ist es wichtig zu zeigen, wie ein echter Wissenschaftler ";tickt";, getrieben vom in dieser Intensität dem ";normalen"; Zeitgenossen unverständlichen Wunsch zu wissen, der sich zum Drang und durchaus zur Besessenheit steigern kann und neben dem Privatleben und Karriereplanung nebensächlich werden. John Renfrew aus 1998 und Gordon Bernstein aus 1962 mögen zwar dreieinhalb Jahrzehnte trennen, aber sie werden von identischen Motiven getrieben. Sie kennen Ängste und Sorgen, und besonders ausgeprägt ist die Frustration darüber, nicht forschen zu können, was sie können und wollen, sondern in stetiger Abhängigkeit von denen zu arbeiten, deren oft einzige Fähigkeit darin besteht, Geld zusammenzutragen.
";Zeitschaft"; spricht aber auch unverhohlen die Schattenseiten des hehren Forscherdranges an. Die Wissenschaft bietet unseren Protagonisten ein Hintertürchen, durch das sie sich den Anforderungen eines als anspruchsvoll und schwierig erfahrenen Lebensalltag entziehen können. Probleme mit der Lebensgefährtin, der Familie, den Eltern, den Freunden, mit allen Menschen, die Aufmerksamkeit oder Hilfe einfordern, werden verdrängt, wenn Renfrew und Bernstein nach den Sternen greifen. Es lässt sie nicht unbedingt gut dastehen oder sympathisch wirken, aber sie werden definitiv menschlich und erreichen als Figuren eine Lebensechte, die in der Science Fiction (leider) immer noch überrascht.
Ein Klassiker setzt sich durch
In Deutschland erschien eine erste Fassung von ";Zeitschaft"; 1984 – man muss die Ausgabe der längst untergegangenen Reihe ";Moewig Science Fiction"; nunmehr wohl so nennen, nachdem mehr als ein Vierteljahrhundert nach der Originalausgabe erstmalig eine vollständig überarbeitete und vor allem ungekürzte Übersetzung in der Reihe ";Meisterwerke der Science Fiction"; des Heyne-Verlags veröffentlicht wurde. ";Zeitschaft"; in der Version von 2006 enthält nun auch ein Vorwort von Jack McDevitt, ebenfalls SF-Autor, der das Werk kundig zu würdigen weiß.
Gregory Benford, Moewig
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