Unkonventionell und langsam, von bedrückender Schönheit
Rollrock Island ist eine kleine Insel im Norden. Die Menschen dort sind so hart wie die raue See, und sie haben kein Gefühl für Andersdenkende. In dieser Atmosphäre wächst das Mädchen Misskaella auf. Seid sie jung ist, hat sie eine ganz besondere, geradezu magische Beziehung zu den Robben, die im Meer um die Insel leben. Eine Fähigkeit, die den anderen Inselbewohnern suspekt vorkommt; das Mädchen findet nie Anschluss, bis sie eines Tages ihre Gabe entdeckt: Misskaella kann Robben aus ihrem Pelz schälen und in Menschen verwandeln.
Um sich auf der Insel einen besseren Status zu verschaffen, macht sie von ihrer Gabe gebrauch, um den Männern gegen Geld Robbenfrauen zu erschaffen. Misskaella wird als Hexe verschrien, wandelt sich die Missachtung der anderen in Eifersucht und Angst, und dennoch: Immer mehr Männer werden von den geheimnisvollen, wunderschönen Frauen aus dem Meer angezogen und nehmen ihre Hilfe in Kauf; eine Entwicklung, die ihre menschlichen Ehefrauen nicht aufhalten können.
Obwohl alle wissen, was passiert, wird das Geheimnis um die schwarzhaarigen Frauen aus der See von Generation zu Generation weiter gegeben: Niemand redet darüber, woher die Robbenfrauen kamen, niemand kann dem Bann der Frauen wiederstehen. Doch so sehr die Meerfrauen ihre Männer und Söhne lieben – sie wollen ins Meer zurück. Doch die Männer haben ihre Pelze versteckt, weil sie die Frauen nicht aufgeben wollen. Seeherzen ist die Geschichte von magischen Robbenfrauen und menschlichen Schicksalen in einer bedrückenden Inselatmosphäre. Besitztum, Rachsucht und Abhängigkeit prägen das Leben der Menschen auf Rollrock Island.
Margo Lanagan ist eine australische Autorin, die hauptsächlich Kurzgeschichten und Young Adult Fiction schreibt. Ihre Kurzgeschichte "Sea Hearts", auf der dieses Buch basiert, gewann 2010 den World Fantasy Award für die beste Erzählung. In Seeherzen erfindet Lanagan die schottische Sage um die Robbenfrauen, auch Selkies genannt, neu.
Die Handlung umspannt mehrere Generationen, und zeigt die tragische Entwicklung, die sich auf der Insel abspielt, die große Abhängigkeit, die Robbenfrauen und Inselmänner entwickeln. Seeherzen ist kein Buch, das Sensationen und Aktion beinhaltet: Das Buch ist in einer bedrückenden, ruhigen Sprache geschrieben, der Plot entfaltet sich langsam, ohne zu einem Höhepunkt zu kommen. Das kann auch daran liegen, dass der Roman aus einer Kurzgeschichte entwickelt wurde.
Die Abwesenheit eines konventionellen Spannungsbogen macht die Lektüre vielleicht manchmal langsamer, man ist weniger getrieben. Diese Schwäche ist gleichzeitig die größte Stärke des Buches: Denn es gibt den Charakteren Zeit, sich zu entwickeln, ihre Motive zu hinterfragen und ihnen näher zu kommen. Das ist wichtig, denn einen wirklichen Helden gibt es nicht. Die Figuren sind alle von egoistischen Motiven gelenkt, die sie auf den ersten Blick sehr unsympathisch wirken lassen. Doch mit der tiefgreifenden Ausleuchtung der Charaktere werden ihre Motive immer nachvollziehbarer, und der unterschwellige Konflikt kann nur so zum Greifen kommen.
Was das Buch letzten Endes zusammenhält, ist doch die klaustrophobische Inselatmosphäre, die Lanagan in ihren etwas umständlichen, schönen Schreibstil perfekt entwickeln kann.
Seeherzen von Margo Lanagan ist kein einfaches Buch, kein Buch, das sich einem ohne Widerstand öffnet. Die bedrückende Atmosphäre, die die Autorin in dem Buch erschafft, schlägt auf Gemüt: aber das soll so sein. Auf dieses Buch muss man sich einlassen, und man wird belohnt mit dem Portrait einer Parallelgesellschaft voll Missgunst, Magie und Geheimnissen.
Margo Lanagan, Rowohlt
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