Das Camp

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2014
  • 1
Das Camp
Das Camp
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2014

Isoliert auf parasitenterrorisierter Insel

Ein gutes Stück vor der neuenglischen Atlantikküste liegt Falstaff Island, ein unbewohntes, karges Eiland, dem normalerweise nur Vogelbeobachter einen Besuch abstatten. In diesem Herbst wird die kleine Inselhütte von Dr. Tim Riggs, dem Leiter der Pfadfindergruppe Prince Edward Island, und fünf halbwüchsigen Scouts genutzt, die hier einen abenteuerlichen Ausflug unternehmen wollen.

Max Kirkwood, Kent Jenks, Ephraim Elliot, Shelley Longpre und Newton Thornton sollen in dieser Hinsicht keine Enttäuschung erleben; tatsächlich werden sie ihren Inseltrip mehrheitlich nicht überleben. Aus einem nahe gelegenen, streng geheimen Forschungslabor ist Thomas Padgett entwichen. Finanzielle Not hatte ihn in die Arme des ebenso genialen wie skrupellosen Wissenschaftlers Clive Edgerton getrieben, als dieser nach einem menschlichen Versuchskaninchen Ausschau hielt. Angeblich arbeitet Edgerton an einem ‚alternativen' Schlankheitsmittel. Dafür hat er mittels genetischer Manipulationen einen Super-Bandwurm erschaffen, der als Gast im menschlichen Darm überzählige Kalorien abschöpfen soll.

Doch das Experiment ging schief. Der mutierte Parasit denkt nicht daran, sich auf den Darm zu beschränken. Stattdessen befällt er sämtliche Organe und das Hirn und höhlt seinen Wirt von innen aus. Als Padgett merkte, was ihm blühte, ergriff er die Flucht, die ihn nun nach Falstaff Island führt. Dort findet er vor den Augen der entsetzten Pfandfinder ein entsetzliches Ende, hat zuvor jedoch Gruppenleiter Riggs infiziert, der rasch eindeutige Ansteckungsmerkmale zeigt und von den verängstigten Jugendlichen in einen Schrank gesperrt wird.

Hilfe vom Festland bleibt aus. Stattdessen erscheint das Militär und riegelt Falstaff Island hermetisch ab. Die fünf Pfadfinder sind auf sich gestellt. Panik und Gewalt brechen aus, als sie die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und die Allgegenwärtigkeit des Parasiten registrieren ...

Ein realer, ekliger Schrecken

Im bereits leicht fortgeschrittenen 21. Jahrhundert fällt die Erschaffung populärer Schrecken schwer. In sämtliche schattigen Bereiche der menschlichen Seele sind Schriftsteller und andere (Unterhaltungs-) Künstler bereits vorgedrungen, um Angst von dem verbreiten zu lassen, was sie dort gefunden haben. Auch der Vorstellungskraft sind Grenzen gesetzt. Faktisch kommt alles wieder - mehr als einmal und höchstens im zeitgenössisch zugeschnittenen Gewand.

Nick Cutter belegt, dass es problemlos möglich ist, einen Gang herunterzuschalten: Manches Grauen verliert seine Wirkung nicht! Gemeint sind nicht Vampire, Zombies und andere erdachte Gruselgestalten, sondern ganz reale Grässlichkeiten. Zu denen gehört - da dürfte sich kein Widerspruch erheben - der Bandwurm: eine Kreatur, die im menschlichen Körper haust, sich durch den Menschen ernähren lässt und in der feuchten Finsternis des Darms zu beträchtlicher Größe heranwachsen kann.

Schon diese Vorstellung sorgt für Ekel, doch wirklich schlimm wird es, wenn sich der Parasit zu vermehren beginnt: Seine unzählige Brut macht sich in anderen Organen breit und dringt womöglich bis ins Gehirn vor - eine Invasion, die nicht ohne gesundheitsschädliche Folgen bleibt.

Noch vor gar nicht so langer Zeit war der Bandwurm ein ungern gesehener aber regelmäßiger Gast. Erst die Verbreitung bestimmter Hygienestandards sowie diverse Medikamente, die ihn zur Abreise zwingen, haben ihn selten werden lassen. Doch er ist immer noch da und wird wohl auch nie verschwinden: Wer beispielsweise Fleisch allzu unbekannter Herkunft gar zu leicht gebraten verzehrt, kann sein blaßgelbes Wunder erleben.

Das Ende der Kindheit - und des Lebens

Als sehr wortgewandter Erzähler vermag Nick Cutter "seinen" Bandwurm mit zusätzlichen Scheußlichkeiten aufzuladen. So ist diese Kreatur kein passiver Parasit, sondern sucht aktiv nach neuen Opfern. Womöglich gibt es Anzeichen von Intelligenz; auf jeden Fall schaltet sich der Wurm ins menschliche Hirn ein, um seinen Wirt zu steuern. Das ist auch deshalb notwendig, weil dieser Wurm seine Opfer buchstäblich ausweidet - eine Praxis, die Cutter mehrfach und ekelhaft wirkungsvoll in Szene zu setzen versteht.

Ins Visier der Kreatur geraten vergleichsweise wenige Opfer. An einer globalen Apokalypse ist Cutter nicht interessiert. Es geht ihm um ein Grauen, das zur zwischenmenschlichen Belastungsprobe wird: Wie reagiert das Individuum auf eine wahrlich existenzielle Bedrohung? Wie wirkt sich das auf die Gruppendynamik aus? Cutter setzt seine isolierte Pfadfindergruppe einem Planspiel aus. Ironischerweise ist er nicht der einzige: Falstaff Island steht unter genauer Beobachtung: Auch ein aus dem Ruder gelaufenes Experiment kann Ergebnisse liefern ...

Kinder sind für viele Zeitgenossen weiterhin gutherzige, schwache, vertrauensselige Noch-nicht-Menschen, die der Führung bedürfen und boshafter Gedanken oder gar Handlungen nicht fähig sind. William Golding (1911-1993) war nicht der erste, der dies in Frage stellte, doch an seinen Roman "Lord of the Flies" (1954; dt. Herr der Fliegen) erinnert man sich, weil er ebenso konsequent wie schlüssig den Zerfall der Zivilisation am Beispiel einer Gruppe sechs- bis zwölfjähriger Kinder schilderte.

Die Gemeinschaft zerbricht bzw. formiert sich nach einer Phase der gewalttätigen Neuorientierung um den Stärksten bzw. Rücksichtslosesten, wobei das Alter nur eine untergeordnete Rolle spielt. Kinder verloren ihre kollektive "Reinheit" und "Unschuld". Zum Teil mutierten sie zu echten Teufelskindern à la Damien Thorn (Das Omen). Immerhin wurden sie als Menschen mit allen positiven wie negativen Eigenschaften zur Kenntnis genommen.

Bosheit auch ohne Monster

Die Symbolik blieb dabei nicht selten auf der Strecke, was keinen Nachteil bedeuten musste: So wurde Stephen King berühmt durch die Darstellung von Kindern und Jugendlichen, denen nicht (nur) übernatürliche Schreckgespenster, sondern (auch oder vor allem) die eigene Familie, Lehrer u. a. Autoritätspersonen im Nacken sitzen. Die seelische Deformation ist im Menschen angelegt, so die These, der auch Cutter zuneigt (und in einem Nachwort keinen Hehl daraus macht, dass er in den Fußstapfen von Golding und King wandelt).

Während sich der Wurm-Terror bereits andeutet, gibt Cutter der Figurenzeichnung breiten Raum. Er stattet seine fünf jugendlichen Protagonisten mit ausführlichen Biografien aus. Schon dabei werden Brüche deutlich, die sich in der späteren Krise verbreitern werden. Einige Schicksale sind quasi klassisch; so ist Newton ein typischer, dickleibiger "nerd" und damit der geborene Prügelknabe. Max, Kent und Ephraim scheinen dagegen gesellschaftskonform zu Wunschbürgern heranzuwachsen. Auch sie leiden jedoch unter Charakterschwächen, die durchaus menschlich sind, sie in der Not jedoch zusammenbrechen lassen.

Eine separate Rolle spielt Shelley, der als Bösewicht eine lange unbekannte Größe ist: ein lupenreiner Soziopath, der einerseits genug davon hat, nur wehrlose Tiere zu töten, während ihm andererseits die Maske, die den gefühllosen, manipulativen, bösartigen Rohling verbirgt, vom Gesicht zu rutschen beginnt. Die Isolation von Falstaff Island bietet ihm die Möglichkeit, seinen Trieb auszuleben - eine Herausforderung, der Shelley nicht gewachsen ist.

Für die Erwachsenen bleiben nur Nebenrollen. Ihnen ist sämtlich das Scheitern in Handlung und Moral gemeinsam: Riggs ist nur solange Gruppenführer, wie er die konventionelle Ordnung wahren kann. Sobald es ernst wird, versagt er und wird "entthront". Damit öffnet er dem Anarchismus der führungs- und ratlosen Jugendlichen Tür und Tor. Auch das Verhalten anderer Erwachsener flößt keineswegs Vertrauen ein: Das Militär lässt sich zwar sehen, wagt sich aber nicht auf die Insel. Verzweifelte Eltern, die ihre Kinder retten wollen, werden gewaltsam abgefangen: Auch sie versagen in den Augen der zunehmend verzweifelten und radikalisierten Jugendlichen, die anders in den "Battle Royales" oder den "Hungerspielen" nicht darauf hoffen dürfen, dass man wenigstens den letzten Überlebende als "Sieger" heimführen wird.

Der Herr des Wurms

Die eigentliche Handlung wird durch eingeschobene Zeitungsartikel, Versuchsbeschreibungen, Verhörprotokolle und ähnliche Quellen begleitet. Während die Kinder auf ihrer Insel bis zum Schluss ahnungslos über die wahre Dimension des Grauens bleiben, wird der Leser über die Hintergründe informiert. Erneut zeigt Cutter einen sehr schwarzen Humor, wenn er die Ermittlungsbeamten in den Unterlagen des Edgerton-Teams auf den (ebenfalls abgedruckten) Entwurf einer Anzeige stoßen lässt, mit die Werbetrommel für das ultimative Schlankheitsmittel gerührt werden sollte.

Aber Edgerton ist nicht einmal der größte Bösewicht. In einem unerwarteten Twist, der sich nur auf die Rahmenhandlung beschränkt, findet Cutter eine niederschmetternde Erklärung für die "Quarantäne", unter die Falstaff Island gestellt wurde. Dagegen ist der Wurm trotz seiner Aggressivität letztlich doch nur ein Tier, das überleben will und seine Opfer ohne Hintergedanken anfällt.

Trotz ihrer Ecken und Winkel erzählt Cutter seine Geschichte sehr geradlinig. Unter seinem Geburtsnamen verfasst er Storys und Romane, die von der Literaturkritik hoch gelobt werden. Er ist also ein vorzüglicher Schriftsteller, der "nebenher" Populärliteratur für den Lebensunterhalt schreibt. Sein Talent schaltet er dabei nicht ab, sondern stellt es in den Dienst der jeweiligen Geschichte, selbst wenn diese "nur" Horror bietet. Als Autor ist Cutter eine Bereicherung, die einem Genre guttut, in dem allzu viele ungelenke Fratzenschneider & Bauchaufschlitzer ihr Publikum für dumm verkaufen. Auf weitere deutsch übersetzte Titel kann man deshalb nur hoffen.

Das Camp

Nick Cutter, Heyne

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