Nach dem Sturm
- Heyne
- Erschienen: Januar 2014
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Der Sturm heult metaphorisch über dem (und das) Elend der Welt
In einer allzu nahen Zukunft hat die Erderwärmung zu einer klimatischen Veränderung geführt, die der US-amerikanischen Golfküste nahezu ununterbrochene Wirbel- und Regenstürme beschert. Weil die Natur außer Rand und Band ist und die Schäden nicht mehr behoben werden können, hat die Regierung einen breiten Streifen der Südostküste aufgegeben. Die Bürger wurden dorthin evakuiert, wo das Wetter ein normales Leben noch ermöglicht.
Die geräumte Küstenregion ist zu einer rechtsfreien Zone geworden. Nicht alle Bewohner waren bereit, ihre Heimat aufzugeben. Von außen werden Gesetzlose und Glücksritter magisch von den leeren Städten angezogen, in denen wertvolle Güter und Schätze zurückgelassen wurden. Das Gesetz des Stärkeren regiert in der von permanenten Stürmen heimgesuchten Region.
Cohen gehört zu denen, die sich hartnäckig an ihr altes Leben klammern. Seine hochschwangere Frau kam in den Wirren der Evakuierung ums Leben. Cohen verkriecht sich im robust gebauten Haus seines Vaters und gibt sich der Trauer hin. Sein gut ausgestattetes Domizil erregt die Aufmerksamkeit des selbsternannten Seelenretters Aggie, der mit seiner Bande Flüchtlingen und Zurückbleibenden auflauert, die Männer tötet und die Frauen seinem Harem einverleibt.
Aggies Horde überfällt Cohen, räumt sein Haus leer und raubt auch die wenigen Erinnerungsstücke an seine Ehefrau. Cohen schwört Rache, wird aber von Aggie gestoppt und gefangengesetzt. Doch die geknechteten Frauen erkennen ihren potenziellen Verbündeten. Sie erheben sich gegen Aggie und setzen dessen Schreckensherrschaft ein jähes Ende. Die Gruppe schließt sich Cohen an, der mit den Frauen den langen, gefährlichen Weg zur Grenze einschlägt. Doch die Zone will sie ohne Kampf nicht freigeben ...
Die katastrophal gefilterte Natur des Menschen
In der Krise zeigt sich die wahre Natur des Menschen: Es steckt viel Wahres in diesem Sprichwort. Die dünne Tünche der Zivilisation blättert schnell, wenn das eigene Leben aus dem Lot gerät. Während die einen verzagen, wittern die anderen ihre Chance. Sie nehmen sich, was vom Gesetz nicht mehr verteidigt werden kann.
Dieses Menschenbild ist düster und wird gern mit dem Weltuntergang kombiniert. Der ist als Planspiel fest verankert in der Literatur und wurde durch den Film erst recht populär. Die Vorstellung, den Boden unter den Füßen buchstäblich zu verlieren, sorgt für angenehmes Gruseln. "Ernsthafte" Autoren sehen in der Apokalypse darüber hinaus den metaphorischen Lappen, mit dem die globale Tafel freigewischt wird. Anschließend müssen die Menschen wieder bei null beginnen. Werden sie aus ihren Fehlern lernen oder umgehend in die alten Denk- und Verhaltensmuster zurückfallen?
Für Michael F. Smith ist diese Frage einfach zu beantworten. Dabei zeigt er sich als Pessimist. Vielleicht liegt es daran, dass er die Welt nur beschädigt aber nicht gänzlich untergehen lässt. Das hat seinen Grund, denn Smith geht es gar nicht um den Neuanfang. Die USA existieren weiter. Also machen sie auch so weiter wie bisher, d. h. sie versuchen sich mit möglichst wenig Aufwand und unter Wahrung des Status quo durchzuwursteln.
Der perfekte Sturm
Smith ist ein Bewohner des US-Staates Mississippi. Wie der gesamte Süden des Landes wurde auch dieser 2005 vom Hurrikan "Katrina" hart getroffen. Unter den Folgen des Sturms leidet die Golfregion noch heute. Nicht nur Smith ist der Ansicht, dass die betroffenen Bürger von der Regierung und jenem Teil der Gesellschaft, der von "Katrina" verschont blieb, vergessen bzw. verdrängt wurden: Der Wiederaufbau sowie der dauerhafte Schutz vor weiteren Sturmschäden wurden vernachlässigt, weil beides einerseits kostspielig ist und es andererseits vor allem arme und wirtschaftlich uninteressante Bevölkerungsgruppen erwischt hatte, die sich nicht mit dem erforderlichen Nachdruck gegen die Vernachlässigung wehren konnten.
Der Autor extrapoliert diese Situation. Er bedient sich einer gängigen Theorie, nach der die Stürme vor und über der Golfküste aufgrund einer kontinuierlichen Erderwärmung an Dauer und Intensität zunehmen werden, und stellt (sich) die Frage, welche Folgen dies für die betroffene Bevölkerung haben würde. Dabei nutzt Smith gängige Elemente des Katastrophen-Romans, der das Gesamtgeschehen um der Dramatik willen auf einige Individuen herunter bricht, um ihm buchstäblich Gesichter zu geben.
So vorzugehen hat sich bewährt, ist aber gleichzeitig zum Klischee verkommen, weil die Apokalypse gern missbraucht wird, um melodramatische Liebesgeschichten zu erzählen oder moralische Werte zu feiern. Smith gibt sich kritischer. Betont nüchtern spielt er durch, wie und warum ein ganzer Landstrich vor die Hunde geht. Damit begibt er sich vielleicht nicht auf dünnes, ganz sicher aber auf glattes Eis. So kräftig sich Smith, ein ausgewiesener Literat, auch ins Zeug legt, er verfällt doch auf Bekanntes.
Begrenzte Möglichkeiten (der Darstellung)
Schon der Sturm gerät zum Symbol. Der Kritiker könnte durchaus richtig einwenden, dass die Post-Apokalypse nur beschränkte Ausdrucksmöglichkeiten bietet, die deshalb wieder und wieder durchgespielt wurden. Das Problem dabei ist, dass Smith die aus der Trivialliteratur bekannten Situationen und Bilder bemüht, ohne ihnen Neues beimischen zu können.
Erneut wäre ein Einwand möglich: Smith dient die Handlung als Treibriemen für sein eigentliches Anliegen. Es geht ihm um den Menschen selbst, der im Guten wie im Bösen über sich selbst hinauswachsen kann. Aber auch dieses Argument will nicht stechen: Fügt man der Szene noch Zombies hinzu, könnte Nach dem Sturm auch eine Episode der TV-Serie The Walking Dead sein.
Dass Smith sich auf Gefühle und Gedanken konzentriert, sich wortgewaltig ins Zeug legt sowie Symbole und Rückblenden liebt, macht seine Geschichte nicht "wertvoller" als viele, viele Geschichten mit vergleichbarer Thematik. Stattdessen rollt der Leser mit den Augen, wenn er den Verfasser wieder einmal dabei ertappt, wie dieser sich in literarischer Mehrwertschöpfung versucht, statt seine Geschichte voranzubringen.
Das Stichwort "The Walking Dead" beschreibt auch die Figurenzeichnung. Smith will tiefgründige Protagonisten. Selbst Sektenführer Aggie ist kein Schwarzweiß-Schwein, sondern repräsentiert eine melancholische Weltsicht. Die darf er noch gefesselt in einem langen, geschliffenen Monolog kundtun. Leider kommen nur Allgemeinplätze zum Vorschein – ein generelles Problem.
Karawane der Frauen
Cohens Monologe finden meist in Gedanken statt; er ist der große, verletzte Schweiger, der sich zur Führergestalt entwickelt, als er den inneren Schmerz endlich abschütteln kann. Der Geist der geliebten Gattin schwebt auch weiterhin durch das Geschehen, aber Cohen kehrt auch in dieser Hinsicht ins Leben zurück.
Das Frauenbild ist merkwürdig. Aggie fängt Frauen und missbraucht sie als Liebessklaven. Wieso lassen sie sich das gefallen und gehen erst zum Gegenangriff über, als Cohen auf der Bildfläche erscheint? Faktisch unterwerfen sich die Frauen nun ihm, obwohl Cohen sich betont konziliant gibt. Nichtsdestotrotz wagen sie sich erst auf den Weg zurück in die Zivilisation, als Cohen sich an ihre Spitze setzt.
Dabei werden wiederum bekannte Konflikte aufgewärmt. Muss oder kann eine Mutter das Kind einer Vergewaltigung lieben? (Im Zweifelsfall: ja!) Neigen Männer dazu, sich einen Harem anzulegen? (In den US-Südstaaten: offensichtlich.) Können Frauen sich organisieren und selbstständig handeln? (Anscheinend – s. o. – nicht.) Im Zweifelsfall entscheidet sich Smith für das Klischee als Antwort. Vielleicht IST das Klischee die Antwort.
Besonders tiefgründig ist das alles nicht, besonders spannend auch nicht. Irgendwo zwischen (aller guten Dinge sind drei) "The Walking Dead" und Cormac McCarthys "Die Straße" ist Michael F. Smith steckengeblieben. Während es an der Golfküste stürmt, plätschert die Handlung eher vor sich hin und versickert in einem pseudo-tragischen Finale. Nach dem Sturm soll anrühren, womöglich zum Nachdenken anregen. Doch diese Geschichte lässt kalt. Wenigstens ist sie gut geschrieben (und übersetzt).
Michael Farris Smith, Heyne
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